Gestern brachte SWR 2 mein Feature
"Die Wissenschaft und ihre Feinde". Wie üblich ein paar ergänzende Gedanken ...
Warum zweifeln immer Menschen an gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen? Ich meine nicht das sprichwörtliche gesunde Misstrauen, nicht eine skeptische Haltung gegenüber dem Forschungsbetrieb und seinen Ergebnissen, die übrigens unter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern am größten ist und die ich jedem nur empfehlen kann. Ich meine das generalisierte, undifferenzierte Misstrauen, das an Zusammenhängen zweifelt, an denen kein vernünftiger Zweifel besteht. Ich meine also den unvernünftigen Zweifel – wo kommt er her?
Die Klimatologen betonen gern, dass wir in der vergangenen drei Jahrzehnte keine wesentlichen neuen Erkenntnisse über das Klimasystem gewonnen haben. Dafür haben wir massenhaft Daten, die belegen, dass der Treibhauseffekt die gegenwärtige, rasante Erderwärmung verursacht. Wie kann man daran zweifeln? In Deutschland werden jedes Jahr knapp zwei Millionen Dosen der Mumps-Masern-Röteln-(Varizellen)-Impfung verabreicht. Hätten sich schwere Impfschäden und Entwicklungsstörungen nicht herumgesprochen? Zugegeben, falsche Theorien können richtige Prognosen produzieren, Denkkollektive (Ludwik Fleck) mit Blindheit geschlagen sein. Aber darum geht es den Wissenschaftsskeptikern nicht. Sie behaupten, die Wahrheit würde verheimlicht.
In einer arbeitsteiligen Gesellschaft sind alle Laien. Selbst ein Naturwissenschaftler mit mehreren Professuren hat in der Regel keine Ahnung von Medizin. Informatiker wissen nichts über Geschichte, Biologen nichts über Psychologie. (Dies gilt natürlich auch für Expertise außerhalb der Universitäten, die von Akademikern völlig unterschätzt wird.) Es geht also um Glaubwürdigkeit, und das ist ein interessanter Begriff. "Du scheinst würdig zu sein, dass ich dir glaube", so lässt sich die Haltung beschreiben, "und zwar obwohl ich selbst deine Behauptungen nicht nachvollziehen kann." Wir sind zum Vertrauen verdammt. Es genügt daher nicht, wissenschaftliche Zusammenhänge besser zu erklären, so wünschenswert das sein mag. Noch der größte Blödsinn kann plausibel klingen, wie Wissenschaftskommunikatoren bewiesen haben und weiter beweisen.
Das System Wissenschaft beweist seine Glaubwürdigkeit auf unterschiedliche Arten. Indem es Fehlverhalten rigoros und konsequent bestraft. Indem es Wissenschaftlichkeit ernst nimmt und sie umsetzt. Indem es unabhängig wird (leider sind viele Forschungszweige heute alles andere). Vor allem aber, indem Wissenschaft sich nützlich macht, und zwar für Bevölkerungsmehrheiten.
Ich plädiere nicht für blindes Vertrauen, sondern sozusagen für sehendes Vertrauen, oder noch besser: für ein spezifisches Misstrauen, das an Wissenschaftlichkeit festhält. Nach vielen Expeditionen ins Dickicht der Online-Foren und Kommentarspalten, von denen ich versehrt an Seele und Geist zurückkehrt bin, muss ich berichten: Die populäre Wissenschaftsskepsis leistet gerade das nicht. Die konkreten Probleme im Wissenschaftssystem tauchen gar nicht auf, sondern nur Karikaturen über Auftragsforschung und Lobby-Interessen. Das Niveau ist erbarmungswürdig. Fachkenntnis wird nicht erkannt und nicht anerkannt, dafür massenhaft vorgetäuscht.
Aber am schlimmsten ist der erkenntnistheoretische Relativismus, "die Behandlung von Tatsachenwahrheiten als bloße Meinungen, über die man dieser oder auch anderer Meinung sein könne" (Hannah Arendt, Wahrheit und Politik). Die Postmoderne hat die Massen ergriffen, Wahrheit gilt als Machtfrage. Die Wissenschaftsskeptiker äußern natürlich keine ziselierten Genealogien der Begriffe. Sie dekonstruieren nicht, sondern verneinen. Sie sagen: "Alles Lüge!" Und: "Ich mach mir die Welt, tralala, wie sie mir gefällt ..." Auch darin stimmen sie mit den neuen Autokraten überein, die allesamt Voluntaristen sind. "Wo ein Wille, da ein Weg, notfalls ein Krieg! Vertraut mir, ich mach das schon." Die populäre Wissenschaftsskepsis ist mit der rechten Elitenkritik verwoben, und ob sie progressiv gewendet werden kann, weiß ich nicht.
Unsere Möglichkeiten der Naturbeherrschung und Naturaneignung stoßen gerade an harte Grenzen, auch wenn einige Wissenschaftler das Gegenteil behaupten. Die Erderwärmung und die ökologische Krise sind sicher das stärkste Beispiel, aber dies gilt auch für Antibiotikaresistenzen oder die technisch gestützte Rationalisierung. Sorry to say: Wir haben die Sache nicht im Griff. Wir haben auch den Planeten nicht im Griff. Dieses Anthropozän ist nicht nur für die Tiere und Pflanzen, sondern für uns selbst eine Katastrophe.
Ist es dieses Gefühl schwindender Macht und Kontrolle, das die Menschen irre werden lässt?