Donnerstag, 26. Februar 2015

Wolfgang Schäuble hält sich die Ohren zu und lässt den Rollstuhl auf den Abgrund zu fahren

"Entsetzt" und "fassungslos" angesichts der "zornigen" "Drohungen" seines griechischen Amtskollegen sei er, meint Wolfgang Schäuble. Aber was hat Yanis Varoufakis denn eigenlicht gesagt?
Racists and nationalists will be the only ones to benefit if European leaders asphyxiate a democratically elected government like mine. This is what I tell my counterparts: if you think it is in your interest to shoot down progressive governments like ours, just a few days after our election, then you should fear the worst.
Das bedeutet: Schäuble und der Presse-Troß, der hinter ihm herzieht, sind derart in Rage, dass sie nicht einmal mehr lesen können oder verstehen wollen. Denn Varoufakis Aussage in dem Interview ist ja keine Drohung, sondern lediglich eine Warnung, allerdings eine, die ernstzunehmen ist. Statt mit Podemos und Syriza wird die Troika mit der Goldenen Morgenröte und den spanischen Faschisten verhandeln - wollen sie gerade das?

Der griechische Finanzminister hat wenig erreicht, aber viel versprochen. Es mag ein schwaches Argument sein, auf die Gefahr von rechts hinzuweisen, um das eigene Versagen zu kaschieren, aber recht hat er allemal. Schäuble dagegen, das ist einer, dem nichts Unmenschliches fremd ist, mit krankhaft reinem Gewissen und immer ein bißchen beleidigt.

Samstag, 21. Februar 2015

"Ihr nervt!" ...

... ruft Kerstin Bund in der aktuellen Zeit den Bahnarbeiterinnen und Bahnarbeitern zu, die vielleicht bald wieder streiken, und sie meint das auch so. Bund ist eine junge Wirtschaftsjournalistin, gerade mal 32 Jahre alt und Absolventin der Axel Springer Akademie. Sie hat ein Buch veröffentlicht, das im Untertitel
Anders leben. Anders arbeiten. Anders sein.
heißt und sich um die (vermeintlich) kommende Arbeitswelt dreht - Streiken gehört offenbar nicht zu ihr.
Für ihre engagierte Berichterstattung hat sie u. a. den Ernst-Schneider-Preis für Wirtschaftsjournalismus erhalten.
heißt es auf ihrer Autorinnen-Seite bei Der Zeit, weil Bund kämpft gegen Privilegien, sofern es solche von abhängig Beschäftigten sind.

Nun wäre ihr Artikel der Rede und das Bloggen nicht wert, wäre Bund nicht aus Versehen eine wunderbare Passage gelungen:

Bei der Bahn haben die Lokführer den bundesweiten Schienenverkehr bereits sechsmal lahmgelegt ... den Konzern kostet das bislang 150 Millionen Euro - und die Reisenden ihre Selbstbestimmung
weil die Reisenden nämlich nicht mehr machen können, was sie wollen und in München bleiben müssen statt selbstbestimmt nach Berlin zu fahren, wenn der Lokführer nicht mag, was fies ist, aber eben in dessen selbstbestimmter Entscheidungsmacht liegt, die für die Freiheit seiner Mitmenschen böse Folgen hat, während dagegen ein Stocken des steten Stroms schlechter Zeitungsartikel und schlechter Bücher keinem groß auffällt, ich fände es regelrecht wohltuend.

Donnerstag, 19. Februar 2015

Islamistische Apokalyptiker

Im Atlantic analysiert Graeme Wood den Islamischen Staat als apokalyptische Bewegung. Es gehe der Bewegung buchstäblich um das Ende der Zeiten, wenn Gläubige und Ungläubige, das Gute und Böse einander vernichten und das Reich Gottes anbricht.
During the last years of the U.S. occupation of Iraq, the Islamic State’s immediate founding fathers saw signs of the end times everywhere. They were anticipating, within a year, the arrival of the Mahdi—a messianic figure destined to lead the Muslims to victory before the end of the world. ...
For certain true believers—the kind who long for epic good-versus-evil battles—visions of apocalyptic bloodbaths fulfill a deep psychological need ... Parts are based on mainstream Sunni sources and appear all over the Islamic State’s propaganda. These include the belief that there will be only 12 legitimate caliphs, and Baghdadi is the eighth; that the armies of Rome will mass to meet the armies of Islam in northern Syria; and that Islam’s final showdown with an anti-Messiah will occur in Jerusalem after a period of renewed Islamic conquest.
Mit dieser Interpretation stellt sich der Autor ausdrücklich gegen die Ansicht, mit dem Islamische Staat könne verhandelt werden, und auch gegen die Behauptung, der Neofundamentalismus sei ein wesentlich modernes Phänomen. Wood beschreibt den IS vielmehr als eine Art millenaristische Sekte des europäischen Hochmittelalters, wobei er sich auf den Islamwissenschaftler Bernard Haykel bezieht.
There is a temptation to rehearse this observation—that jihadists are modern secular people, with modern political concerns, wearing medieval religious disguise—and make it fit the Islamic State.
... The fighters of the Islamic State are authentic throwbacks to early Islam and are faithfully reproducing its norms of war. This behavior includes a number of practices that modern Muslims tend to prefer not to acknowledge as integral to their sacred texts. “Slavery, crucifixion, and beheadings are not something that freakish [jihadists] are cherry-picking from the medieval tradition”.
Das Archaische am islamistischen Terror in Sysrien und im irak wäre also nicht nur "schmückendes Beiwerk", das auf die Rekruten aus dem Westen romantisch und anziehend wirkt und die unfassbare Brutalität bemäntelt. Es wäre zentral und erklärt sich aus der apokalyptischen Haltung der Bewegung.
The Islamic State has attached great importance to the Syrian city of Dabiq, near Aleppo. It named its propaganda magazine after the town, and celebrated madly when (at great cost) it conquered Dabiq’s strategically unimportant plains. It is here, the Prophet reportedly said, that the armies of Rome will set up their camp. The armies of Islam will meet them, and Dabiq will be Rome’s Waterloo or its Antietam.

Montag, 16. Februar 2015

Samstag, 14. Februar 2015

Wir werden (falsch) vermessen

Mit riesigen Datenanalysen können Computer unser Verhalten vorhersagen
so heißt es immer wieder, diesmal im Aufmacher des Wirtschaftsteils der aktuellen Ausgabe der Zeit. Der Artikel handelt von Big Data in allen möglichen Bereichen, von der Werbung bis zur Kriminalitätsbekämpfung, und Autor Uwe Jean Heuser strickt kräftig am Mythos, durch immer mehr Daten würden immer bessere Vorhersagen möglich.
Mit Hilfe selbstlernender Computerprogramme können Staaten und Firmen heute riesige Datenmengen nach Verhaltensmustern durchsuchen und daraus Konsequenzen ziehen für ihr Handeln … Es sind Algorithmen, die mit wachsender Präzision berechnen …
etc.

Und ich dachte, der Hype-Kurve hätte den höchsten Punkt überschritten! Worin die wachsende Präzision bestehen soll, verrät der Artikel nicht – wie auch, die statistischen Verfahren, die da zum Einsatz kommen, haben sich in den letzten sechzig Jahren keinen Deut verändert. Die Präzision ist insofern genau so groß oder klein, wie statistische Prognosen immer schon waren. Sie bilden Gruppenzugehörigkeiten und Regelmäßigkeiten ab, die es in der Wirklichkeit geben mag oder eben auch nicht. Die Interpretation von Korrelationen nehmen uns die Computer nicht ab. Entscheidend ist, wie viele verschiedene Datenquellen über dieselbe Person in die Analyse einfließen. Zum Einstieg in das Thema empfehle ich diesen Text von Tim Harford; ich selbst habe auch einige Informationen gegen den Hype zusammengetragen.

Seit gut zehn Jahren verfolge ich das Thema „Überwachung“ journalistisch und halte mich mit Kommentaren lieber zurück und mir die Ohren zu, wenn mir Mumpitz begegnet. Der erwähnte Zeit-Artikel schlägt aber dem Fass den Boden aus.
Zu Diskurswellen und Hype-Zyklen gehören immer auch Anekdoten oder isolierte Zahlen, die Journalisten voneinander abschreiben. Im vorliegenden Fall Big Data ist eine davon die Geschichte des harmlosen amerikanischen Jugendlichen, den die Polizei plötzlich verdächtigt, demnächst einen Mord zu begehen.

Furore machte der beunruhigende Fall eines 22-Jährigen ohne abgeschlossene Ausbildung, der das Pech hatte, in einer üblen Gegend zu wohnen. Er selbst hatte nie mit der Polizei zu tun gehabt. … Wer ihr diese Information verschafft hatte, sagte (die Polizei) nicht.
Mythen werden weitergetragen und dabei abgeschliffen, bis sie eine geschmeidige Form erhalten. Ich versehe durchaus, warum es schön gepasst hätte, wäre es denn so gewesen, aber besagter Pechvogel war nun einmal "öfter wegen kleinerer Delikte verhaftet worden" und die Information stammt aus dem Computerprogramm Blue Crush von IBM, das mit soziodemographischen Daten zum Wohnort und den Einträgen aus der Vorgangsdatenbank der Polizei gefüttert wird. Beim Abschreiben aus dem Internet Fehler machen – und damit kommt man heutzutage bei der Qualitätspresse durch?

Schlimmer als die schlampige Arbeitsweise ist, dass niemand beim Formulieren und Floskeln innehält und einmal kurz nachdenkt. Denn die andere unvermeidliche, sozusagen komplementäre Geschichte über Big Data findet sich natürlich auch, in demselben Text: jene junge Frau, deren Familie (in manchen Versionen sie selbst) nicht wusste, dass sie schwanger war und die trotzdem Werbung für Schwangere bekam.

Ich meine: Hallo? Wie passt das zusammen? Einmal beängstigend unfehlbare Vorhersage, einmal grundlose Verdächtigung?

Das passt zusammen, weil sehr viele Frauen besagte Werbung für Schwangere erhalten haben, die nicht schwanger sind - nennen wir sie der Übersichtlichkeit halber falsch negative Prognosen - und die in den vielen, vielen Artikeln zum Thema niemals erwähnt werden. Besagter junger Mann dagegen erfüllt die statistisch ermittelten Parameter, die für eine schwere Gewalttat sprechen. Begeht er sie, die Chance dazu hat er ja weiterhin, dann traf die Vorhersage zu - nennen wir es richtig positive Prognose. Begeht es sie nicht, dann lag der unfehlbare Algorithmus wohl falsch.

"Mindestens 330 Millionen Euro für ein weitgehend nutzloses Medikament"

Gestern Abend berichtete Transparency International Neues über das antivirale Mittel Tamiflu und das anhaltende "Tamiflunkern" und ich habe für Telepolis einen Artikel darüber geschrieben.
Das Medikament wurde zu einem Lehrstück über die Meinungsmacht der Pharmaindustrie, die unangenehme Daten aus der Forschung herunterspielen oder verschwinden lassen kann. Transparency fordert jetzt "eine neutrale wissenschaftliche Bewertung des tatsächlichen Gefahrenpotentials" durch "unabhängige Experten".

Dienstag, 10. Februar 2015

An ihren Power Point-Vorträgen sollt ihr sie erkennen.

Sonntag, 8. Februar 2015

"Wir brauchen wieder Politiker wie Bismarck oder Metternich!"

Ein neues Interview - mit Loretta Napoleoni, eine der vielen "Terror-Experten", nicht die schlechteste.
"Ich sage keineswegs, wir sollten mit dem IS offiziell verhandeln. Ich sage, wir sollten über informelle diplomatische Kanäle herausfinden, was sie eigentlich genau wollen. Eindämmung scheint mit die bessere Strategie zu sein, als weiter zu versuchen, sie auszuradieren. Dazu gehört allerdings ein Umdenken auf Seiten der USA. Einen Drohnenkrieg zu führen, ist politisch leicht durchzusetzen, aber er wird keine Lösung bringen. Auf diese Art werden wir nur den Stellvertreterkrieg zwischen den regionalen und Weltmächten verlängern, der den Aufstieg des Kalifats überhaupt erst ermöglicht hat."
An dieser Stelle weise ich darauf hin, dass ich mir die Meinung meiner Interpartner nicht zu eigen mache.

Freitag, 6. Februar 2015

Selbstoptimierung? Gesundheitsdiktatur? Bevölkerungspolitik!


In der aktuellen 'Konkret' habe ich zusammengefasst, was sich in meinem Buch 'Mythos Vorbeugung' an politischer Kritik und Analyse verbirgt. Gesundheitsförderung und gesundheitliche Prävention, das ist nämlich ein vertracktes Ding. Interessen von oben und Interessen von unten prallen hier aufeinander, aber sie vermischen sich auch. Ich habe versucht, diesem ambivalenten Charakter gerecht zu werden, statt sie auf einerseits eine "Gesundheitsdiktatur" und andererseits "Selbstoptimierung" zu vereindeutigen, zu reduzieren.
Das Ideal der gegenwärtigen Gesundheitspolitik im speziellen und der Bevölkerungspolitik im allgemeinen ist ein stummer Zwang. Sie scheut das Verbot und liebt den Anreiz. Einen Anreiz zu setzen bedeutet, ein vorhandenes Bedürfnis aufzugreifen, dann eine bestimmte Möglichkeit zu seiner Befriedigung zu bieten (und andere Möglichkeiten zu verhindern) und Verhalten so in eine gewünschte Richtung zu lenken. Angeblich zwingen Anreize nicht - sie empfehlen bloß. In Wirklichkeit verläuft zwischen Anreiz und Zwang keine klare Grenze.
Anreize sind ein gangbarer Weg, um sich Kontrollkosten vom Leib zu halten, und mit einem liberalen Selbstanspruch besser vereinbar. Theoretisch ist der liberale Staat nämlich der Wertneutralität verpflichtet. Ob seine Bürger Kinder machen oder es lassen, rauchen wie die Schlote, saufen wie die Löcher oder auch ob sie sich die Beine abhacken, all das geht ihn eigentlich nicht das geringste an. Praktisch hat er immer Erwünschtes normiert und Unerwünschtes stigmatisiert – eben Bevölkerungspolitik betrieben.
Es geht dem Staat also, zugespitzt gesagt, darum, den Zwang zum Verstummen zu bringen, eine notwendige Ergänzung der Notwendigkeit, als Eigentumsloser seine Haut zu Markte zu tragen. Die liberale Form der gesundheitlichen Prävention garantiert höchstens eine formelle Freiheit - aber diese formelle Freiheit ist kein Zufall, sondern einer bürgerlichen Gesellschaft wesentlich!
Mach es doch nicht so kompliziert? Doch, lasst es uns noch komplizierter machen! So lange, bis es so kompliziert wie die Wirklichkeit ist (und dann aber schnell aufhören!).
Die präventive Gesundheitspolitik nimmt das Individuum in Dienst, ihr Endziel ist die "Eigenverantwortung". Den eigenen Körper pflegt jeder und jede verantwortungsbewusst und mit wachsendem Aufwand - in der Regel haben wir ohnehin nichts anderes als unsere geistige und körperliche Gesundheit. Das Individuum ist vollständig proletarisiert, aber soll seinen Körper bürgerlich als individuellen Besitz betrachten. Gleichzeitig, und das ist entscheidend, verwandelt der Staat die Gefahr, krank zu werden, in ein individuelles Risiko mit drastischen Folgen.
Das Problem ist oft, dass die meisten Kritiker der bevölkerungspolitisch motivierten Vorbeugung ebenso individualistisch denken wie deren Befürworter, Propagandisten und Praktiker. Entscheidend ist aber der soziale Charakter von Gesundheit. Das meine ich nicht als moralisches Postulat, im Sinne von "Gesundheit ist keine Ware!". Ob es uns nun gefällt oder nicht, Gesundheit (im subjektiven Sinne: Zufriedenheit, im objektiven Sinne: Abwesenheit von Krankheit, Überleben) entsteht nur im Zusammenspiel zwischen Individuum und seinen Gemeinschaften, in den sozialen Feldern, in denen es sich reproduziert. Das bedeutet, wir müssen das Zusammenspiel von Staat und Individuum betrachten, um die merkwürdige Erscheinung Prävention zu verstehen.

Lässt sich Bevölkerungspolitik von einem konstruktivistischen Standpunkt kritisieren?

Donnerstag, 5. Februar 2015

"Ich werfe den Deutschen nicht vor, dass sie selbstsüchtig sind. Ich werfe ihnen vor, dass sie ein bisschen idiotisch sind."

Wer ist und was will dieser Yanis Varoufakis? Doug Henwood hat in seiner Radiosendung Behind the News den heutigen Finanzminister seit dem griechischen Aufstand 2008 sechszehnmal interviewt und gerade einige markante Stellen zusammengestellt. Das lohnt sich für alle, die sich nicht für tagesaktuelles Geschwätz über fehlende Krawatten und halbverstandene Spieltheorie interessieren.