Freitag, 6. Februar 2015

Selbstoptimierung? Gesundheitsdiktatur? Bevölkerungspolitik!


In der aktuellen 'Konkret' habe ich zusammengefasst, was sich in meinem Buch 'Mythos Vorbeugung' an politischer Kritik und Analyse verbirgt. Gesundheitsförderung und gesundheitliche Prävention, das ist nämlich ein vertracktes Ding. Interessen von oben und Interessen von unten prallen hier aufeinander, aber sie vermischen sich auch. Ich habe versucht, diesem ambivalenten Charakter gerecht zu werden, statt sie auf einerseits eine "Gesundheitsdiktatur" und andererseits "Selbstoptimierung" zu vereindeutigen, zu reduzieren.
Das Ideal der gegenwärtigen Gesundheitspolitik im speziellen und der Bevölkerungspolitik im allgemeinen ist ein stummer Zwang. Sie scheut das Verbot und liebt den Anreiz. Einen Anreiz zu setzen bedeutet, ein vorhandenes Bedürfnis aufzugreifen, dann eine bestimmte Möglichkeit zu seiner Befriedigung zu bieten (und andere Möglichkeiten zu verhindern) und Verhalten so in eine gewünschte Richtung zu lenken. Angeblich zwingen Anreize nicht - sie empfehlen bloß. In Wirklichkeit verläuft zwischen Anreiz und Zwang keine klare Grenze.
Anreize sind ein gangbarer Weg, um sich Kontrollkosten vom Leib zu halten, und mit einem liberalen Selbstanspruch besser vereinbar. Theoretisch ist der liberale Staat nämlich der Wertneutralität verpflichtet. Ob seine Bürger Kinder machen oder es lassen, rauchen wie die Schlote, saufen wie die Löcher oder auch ob sie sich die Beine abhacken, all das geht ihn eigentlich nicht das geringste an. Praktisch hat er immer Erwünschtes normiert und Unerwünschtes stigmatisiert – eben Bevölkerungspolitik betrieben.
Es geht dem Staat also, zugespitzt gesagt, darum, den Zwang zum Verstummen zu bringen, eine notwendige Ergänzung der Notwendigkeit, als Eigentumsloser seine Haut zu Markte zu tragen. Die liberale Form der gesundheitlichen Prävention garantiert höchstens eine formelle Freiheit - aber diese formelle Freiheit ist kein Zufall, sondern einer bürgerlichen Gesellschaft wesentlich!
Mach es doch nicht so kompliziert? Doch, lasst es uns noch komplizierter machen! So lange, bis es so kompliziert wie die Wirklichkeit ist (und dann aber schnell aufhören!).
Die präventive Gesundheitspolitik nimmt das Individuum in Dienst, ihr Endziel ist die "Eigenverantwortung". Den eigenen Körper pflegt jeder und jede verantwortungsbewusst und mit wachsendem Aufwand - in der Regel haben wir ohnehin nichts anderes als unsere geistige und körperliche Gesundheit. Das Individuum ist vollständig proletarisiert, aber soll seinen Körper bürgerlich als individuellen Besitz betrachten. Gleichzeitig, und das ist entscheidend, verwandelt der Staat die Gefahr, krank zu werden, in ein individuelles Risiko mit drastischen Folgen.
Das Problem ist oft, dass die meisten Kritiker der bevölkerungspolitisch motivierten Vorbeugung ebenso individualistisch denken wie deren Befürworter, Propagandisten und Praktiker. Entscheidend ist aber der soziale Charakter von Gesundheit. Das meine ich nicht als moralisches Postulat, im Sinne von "Gesundheit ist keine Ware!". Ob es uns nun gefällt oder nicht, Gesundheit (im subjektiven Sinne: Zufriedenheit, im objektiven Sinne: Abwesenheit von Krankheit, Überleben) entsteht nur im Zusammenspiel zwischen Individuum und seinen Gemeinschaften, in den sozialen Feldern, in denen es sich reproduziert. Das bedeutet, wir müssen das Zusammenspiel von Staat und Individuum betrachten, um die merkwürdige Erscheinung Prävention zu verstehen.

Lässt sich Bevölkerungspolitik von einem konstruktivistischen Standpunkt kritisieren?

Die liberale Kritik an allen Ansprüchen, die der Staat oder "die Allgemeinheit" an uns stellt, ist hilflos, manchmal asozial (wie die Impfkritik). Ihre linksradikale Variante ist radikalkonstruktiv. Diese stellt auf die Beliebigkeit der normativen Körperbilder ab - einst galten, anderswo gelten andere Ideale von gesundem Verhalten. Das ist schon richtig, aber begreift die Körper lediglich als konstruierte, nicht als konstituierte. Denn natürlich kann kein Deutungsmuster etwas daran ändern, dass beispielsweise Raucher etwa zwanzigmal häufiger sterben als Nichtraucher, arm früher tot bedeutet etc.
Die radikal-liberale Kritik richtet sich unspezifisch gegen jeden gesellschaftlichen Konformitätszwang, der auf die Individuen ausgeübt wird. Wir leben aber nicht mehr im ausgehenden "Fordismus", sondern im ausgehenden Neoliberalismus! Diese Kritik ist nicht auf der Höhe der Zeit. Sie rennt Türen ein, die schon vor einiger Zeit weit auf gemacht worden sind.
Schlimmer noch, die "Dekonstruktion" von Krankheit und Subjektivierung von Gesundheit befördert noch die Beliebigkeit, nach der jeder eben selbst wissen soll, was für ihn das beste ist. Sie kann das Wichtige gar nicht in den Blick bekommen: die sozialen Grundlagen von "Gesundheit", die den engen Rahmen der persönlichen negativen Freiheit überschreiten muss. Sie ist eine abstrakte Herrschaftskritik im ganz Allgemeinen, eben "kritische Kritik".

Natürliche Grenzen der Biopolitik

Unter der Hand beschäftige ich mich in dem 'Konkret'-Text auch mit Michel Foucault, dessen Ideen unsere Vorstellung über dieses Zusammenspiel geprägt hat. Mir scheint seine Herangehensweis nämlich problematisch.
Die neuen Machttechniken zielen auf die Vermehrung und Verbesserung des Lebens (weshalb Foucault sie Biopolitik taufte). Nun kommt die Bevölkerung als solche in den Blick und wird zu einer staatlichen Angelegenheit. Sie wird statistisch erfasst und erhält "eine Geburtenrate, eine Alterskurve, eine Alterspyramide, eine Sterblichkeitsrate und einen Gesundheitszustand". So beginnt eine epidemiologische Dynamik, die dem Staat immer umfassender und detaillierter zeigt, was im "Volkskörper" vor sich geht, und die ihm heute im Prinzip individuelle Pulsmessungen oder Blutwerte zugänglich macht.
Michel Foucault sprach in diesem Zusammenhang drastisch von einer "Vereinnahmung des Lebens" und "Verstaatlichung des Biologischen". Solche hyperbolischen Ausdrücke wurden stilbildend, aber in Wirklichkeit entzieht sich das Humanbiologische dem direkten Zugriff. Nur Menschen können Menschen machen. Die Grenze der Bevölkerungspolitik entspricht der Grenze der Naturbeherrschung, aber hat auch gesellschaftliche Ursachen. Die Arbeitskraft entsteht in gewisser Weise immer noch naturwüchsig, zufällig und ungeplant. Ihre Grundlage ist eben nicht nur die körperliche Reproduktion, sondern die Sozialisation: Kognitive, körperliche und soziale Fähigkeiten und physische und psychische Belastbarkeit sind miteinander verwoben, untrennbar. Grundlagen für die spätere Lebens- und Leistungsfähigkeit werden in jungen Jahren und in den Familien gelegt.
Der Staat will und kann aus mehreren Gründen die Sphären nicht verstaatlichen, in denen die Arbeitskraft entsteht. Dieser Produktivität der Bevölkerung gegenüber, die neue, mehr oder weniger gesellschafts- und arbeitsfähige Menschen hervorbringt, verhält sich der Staat nicht wie ein Ingenieur, sondern eher wie ein Gärtner, um es bildhaft auszudrücken. Er kann gar nicht die einzelnen Bestandteile dieser Produktivität selbst herstellen und nach Belieben zusammensetzen. Er kann sie lediglich "verpflanzen", "stutzen" oder "düngen". Wir erleben in gewisser Weise eine "Indienstnahme" der Lebenswelt, ihre "Instrumentalisierung" für Verwertungszwecke. Aus bevölkerungspolitischer Perspektive geht es darum, die soziale Produktivität zu steuern, ohne sie ganz zu vereinnahmen. Der Staat will gegenwärtig beispielsweise die Familie nicht abschaffen - wohl aber ihre Entscheidungen umlenken, sofern sie ihm bevölkerungspolitisch kontraproduktiv erscheinen.


Muss die Biopolitik abgeschafft werden? Kann sie abgeschafft werden?

Frauke Petry ist die sächsische Fraktionsvorsitzende der Alternative für Deutschland und wirbt für sich mit der Grusel-Parole: „Kinder sind unser Kapital“. „Familienpolitik ist Bevölkerungspolitik“, erklärt sie und fordert beispielsweise, die Renten von Kinderlosen zu senken. Meldungen, dass sie eine Volksabstimmung für eine Verschärfung des Abtreibungsrechts will, ließ Petry dagegen dementieren - nicht opportun. Noch nicht.
Es gilt folgende historische Faustregel: Je tiefer eine kapitalistische Krise, umso hektischer und brutaler wird Bevölkerungspolitik. In einer ausweglosen Lage scheint nämlich die Qualität des Menschenmaterials immer fragwürdiger, schließlich scheint es nicht mehr dazu zu taugen, um das Lebensnotwendige herzustellen! Soziobiologische und mathusianische Erklärungen für das offensichtliche Scheitern der Gesellschaft werden dann stärker.
Michel Foucault machte „Biopolitik“ (einschließlich ihrer sozialistischen Varianten) zu einem unanständigen Wort. Biopolitik, argumentierte er, sei notwendigerweise rassistisch, weil sie die Gattung in wünschenswerte und und unerwünschte Menschen spaltet. Den Massenmord begründen muss sie dann allerdings mit dem minderen Wert dieser Ermordeten. Mit Verweis auf den Nationalsozialismus argumentierte Foucault, je zentraler die Qualität des biologischen Lebens im herrschaftlichen Projekt, umso mörderischer die Praxis. Dabei begründete Foucault das Abgleiten oder die Eskalation der Bevölkerungspolitik allerdings lediglich mit dem Willen der Herrschaft.
Bevölkerungspolitik muss rassistisch sein - Lebendiges, Lebendige bewerten, gutes Leben fördern, schlechtes Leben hemmen. So richtig das ist, bleibt doch fraglich, ob damit nun alles über die Problematik gesagt ist. Es stellen sich nämlich banale, möglicherweise peinliche Fragen: Was sollten beispielsweise Ärztinnen und Ärzte eigentlich anfangen mit dieser Kritik? Wie soll eine Gesellschaft nach dem Kapital umgehen mit pathogenen Mikroorganismen? Heute ist die Pest in Madagaskar endemisch, während in Schweden unfruchtbaren Frauen eine gespendete Gebärmutter implantiert wird, damit sie schwanger werden können. Für welche medizinischen Behandlungen sollen Ressourcen verwandt werden, für welche nicht? Keine Gesellschaft über dem primitivsten Niveau wird solchen Fragen ausweichen können.
Außerdem ist es natürlich nicht nebensächlich, welche konkreten Folgen Biopolitik für ihre Objekte hat. Werden sie vernichtet? Kriegen sie weniger Geld vom Amt? Müssen sie öfter mal eine Urinprobe abgeben oder werden sie sterilisiert? All das zählt zum biopolitischen Instrumentarium, aber niemand kann auf dieser allgemeinen Ebene beantworten, warum mal das eine, mal das andere Instrument zum Einsatz kommt. Kurz, es stellt sich auch die Frage, wie anständig es eigentlich ist, Impfkampagnen und Auschwitz über denselben theoretischen Kamm zu scheren.