Mittwoch, 31. Juli 2019

Wie Der Spiegel erklärt, warum sich fürs Fliegen niemand schämen muss

So nämlich, mit messerscharfer Logik:
Das Fliegen hat unser Grundverständnis von Distanzen verändert, unseren Radius bei der Job- und Partnerwahl massiv erweitert. Es ermöglicht einen umfassenderen gesellschaftlichen Wissenstransfer. Und es kann uns in der urdemokratischen Fähigkeit schulen, mit Unterschieden respektvoll umzugehen - zum Beispiel wenn wir uns bei Fernreisen für andere gesellschaftliche Konzepte öffnen.

Wer das Fliegen bekämpft, bekämpft auch all diese Errungenschaften.

Tief gedacht, messerscharf geschlussfolgert. "Die Handmühle ergibt eine Gesellschaft mit Feudalherren, die Dampfmühle eine Gesellschaft mit industriellen Kapitalisten", schrieb vor vielen Jahren ein anderer Journalist. Wer gegen die Talgkerze kämpft, stellt sich der Aufklärung in den Weg. Wer gegen Kamele als Fortbewegungsmittel ist, ist islamophob. Wer die Sklaverei ablehnt, lehnt die attische Demokratie und die Philosophie samt Sokrates und Plato ab.

Ich will einfach nicht in einer Welt leben, in der Journalisten so etwas niederschreiben, ohne sich zu schämen. Und muss doch Welt und Mediensystem mit ihnen teilen.

Am besten gar nicht mehr Zeitung lesen und nur noch aus dem Fenster schauen.

Dienstag, 30. Juli 2019

Die Digital-Diktatur der anderen revisited

Kürzlich habe ich die Berichterstattung über Social Credit-Systeme in China kritisiert. Ich zitiere mich eben mal selbst:
Es gibt in Wirklichkeit kein einheitliches System der Bewertung der Bürger in China, ein solches System ist auch nicht in Planung.
Leider ist diese Aussage nur halbrichtig. Korrekt ist: Es gibt bisher kein einheitliches System, und ob in der Zukunft eines entstehen wird, ist unklar. Stattdessen existiert ein Flickenteppich aus Datenbanken von Lokalregierungen und kommerziellen Anbietern, die keine Informationen untereinander austauschen. Dabei handelt es sich meist um Systeme, die mithilfe von Scoring-Verfahren die Kreditwürdigkeit bewerten. Andere kommerzielle Systeme funktionieren wie Rabattkarten. Eine Handvoll Provinzregierungen arbeitet mit Listen, die besonders vorbildliche Mitbürger verzeichnen beziehungsweise notorische Gesetzesbrecher.

Falsch ist allerdings, dass es keine offiziellen Planungen gab. 2014 veröffentlichte der Staatsrat der Volksrepublik ein Strategiepapier mit dem Titel „Umrisse für die Einführung eines Sozialkredit-Systems“. Die Bewertungsverfahren sollen Anreize für gesetzestreues Verhalten schaffen, schädliche Spekulation und Korruption zurückdrängen und dadurch das gesellschaftliche Vertrauen fördern. Das Papier argumentiert rein ökonomisch, von politischer Subversion ist nicht die Rede.

Ein Jahr später erlaubte die Regierung acht Technologiefirmen, Social Credit-Systeme zu entwickeln, darunter auch einer Tochterfirma des Konzerns Alibaba. Letztere entwickelte daraufhin Sesame Credit, ein Score, in den Signale aus der Internetkommunikation einfließen. Allerdings entschied die Regierung bereits 2017, dass kein bestehendes System auf die Nation insgesamt ausgeweitet und verpflichtend werden sollte. Ob ein einheitliches System entstehen wird, das jeden chinesischen Bürger erfasst, ist unklar. Ich habe Genia Kostka deswegen angeschrieben, die zu diesem Thema forscht. Sie sagt, dass die Zentralregierung nächstes Jahr wahrscheinlich eine neue Strategie veröffentlichen wird.

Der chinesische Staat nutzt die Möglichkeiten der digitalen Vernetzung um die Bevölkerung zu überwachen und seine Propaganda zu streuen, teilweise einschließlich von Online-Pragern. Aber er führt die diversen Datenquellen bisher nicht zusammen, wenigstens nicht öffentlich und allgemein. Deutsche und amerikanische Journalisten und Experten verfassen dennoch Seite um Seite über den asiatischen Big Data Brother. Wie zu Beispiel Axel Dorloff, der ARD-Korrespondent (!) in Peking, der dichtet:

Wer schaut heimlich Pornos? Wer lästert über die Partei in den sozialen Netzwerken? Wer fährt einfach bei Rot über die Ampel? Wer pflegt seine Eltern nur halbherzig? Wer wirft seinen Müll auf die Straße? Die chinesische Regierung will Antworten auf all diese Fragen. Daher durchleuchtet der Einparteien-Staat seine Bürger digital bis ins kleinste Detail.
Das passt zum Feindbild und läge doch so nahe. Stimmt halt nicht. Ich empfehle einen neuen Artikel von Wired, der nicht nur einen Überblick über die chinesische Situation gibt, sondern auch zu erklären versucht, wie es zu dem Missverständnis kam. Dass Projektion dabei eine Rolle spielte, dabei bleibe ich.

Montag, 22. Juli 2019

Den Menschen überwinden (was immer das sein mag)

Letzte Woche kündigte Elon Musk (immer gut für ein bitteres Lachen) an, seine Firma Neurolink sei demnächst so weit, menschliche Gehirne sozusagen mit einer Computerschnittstelle zu versehen. Elon Musk gehört nämlich, wie viele andere reiche Unternehmer aus der Branche Internetwirtschaft und Digitaltechnik, zu den sogenannten Transhumanisten. Er träumt von der Optimierung des menschlichen Körpers, seine Ausrüstung und schließlich Vermelzung mit Maschinen.

Den Menschen überwinden zu wollen, ist bekanntlich keine neue Idee. Die Vorstellung "des Menschen", der da überwunden werden soll, ist aber im zeitgenössischen Transhumanismus eine bloße Ansammlung ideologischer Axiome. Er führt Versatzstücke (populärwissenschaftlicher) Evolutionstheorie, viel Spieltheorie und Neoklassik zusammen, verrührt sie mit "kalifornischer Ideologie", aber auch Eugenik und Sozialdarwinismus. Für Telepolis habe ich den Autor Max Schnetker interviewt, der kürzlich das Buch "Transhumanistische Mythologie - Rechte Utopien einer technologischen Erlösung veröffentlicht hat. Max nähert sich der transhumanistischen Ideologie religionswissenschaftlich, denn:

Auf den ersten Blick lehnen Transhumanisten alles Übernatürliche ab, wozu sie unter anderem Subjektivität, Bewusstsein, Emotion und Wille zählen. Gerade deshalb kehren mystische Vorstellungen zurück, um die entstehenden Lücken zu füllen.
In dem Interview geht es um Körpervorstellungen in der KI-Forschung, Rationalität und Mythen über Rationalität.

Dienstag, 16. Juli 2019

Die Digital-Diktatur der anderen

Der Beitrag „Kapitalismus geht auch ohne Demokratie“, Anfang Juni in der Zeit erschienen, ist nicht mehr so richtig frisch. Ehrlich gesagt würde er wahrscheinlich im Discounter meiner Wahl schon einen dieser "30 % Rabatt"-Aufkleber verpasst bekommen. Dennoch lohnen sich einige Anmerkungen, glaube ich, denn dieser kurze Artikel steht beispielhaft für die verzerrte Wahrnehmung Chinas - und die verzerrte Selbstwahrnehmung des sogenannten Westens.

Verfasst haben den Text Thomas Beschorner (Professor an der Universität St. Gallen), Léa Steinacker (Magazin ada) und Miriam Meckel (beides). Ada ist eine Tochter des Handelsblatts mit ganz viel Digitalisierung. Die Autorinnen behaupten, kurz gefasst: die Volksrepublik China könne wegen der Fortschritte in der Informationstechnik in der Lage sein, die europäischen und nordamerikanischen Staaten wirtschaftlich zu übertreffen. Durch umfassende Datenerhebung und deren automatische Auswertung (mittels "Künstlicher Intelligenz") werde erstmals in der Geschichte eine effiziente zentrale Planung der Produktion möglich. Westliche – „liberale“ – und asiatische – „diktatorische“ – Gesellschaften stünden daher in einem „Systemwettbewerb“.

An dieser Darstellung wäre vieles richtig zu stellen, aber ich will mich auf einen Aspekt beschränken. Die neue Angst vor der Gelben Gefahr beruht auf der wachsenden Weltmarktkonkurrenz, nicht auf (zweifellos vorhandenen) Unterschieden der Herrschaftsform. Die Digitalisierung sorgt sogar dafür, dass sie einander in gewisser Hinsicht ähnlicher werden.

Der westliche Blick auf China ist verzerrt durch Angst und Begehren. Deutlich wird dies am „Social Credit Score“, der als „umfassendes gesellschaftliches Steuerungssystem, das 2020 landesweit verpflichtend zum Einsatz kommen soll“, beschrieben wird. Aber obwohl unzählige Fernsehbeiträge und Berichte und sogar einige Bücher dieses Punktesystem zum Paradebeispiel für die chinesische Digital-Diktatur stilisiert haben, gibt es in Wirklichkeit kein einheitliches System der Bewertung der Bürger in China, ein solches System ist auch nicht in Planung.

Dass dieses Missverständnis trotz vieler Korrekturversuche beharrlich weiterverbreitet wird, ist kein Zufall. Bei der Geschichte vom Social Credit System als Waffe in der Hand des chinesischen Big Data Brother handelt es sich um eine Projektion im psychoanalytischen Sinn: Eigenes wird abgespalten und anderen zugeschrieben. Keine individuelle Fehlleistung natürlich, sondern aus dem kollektiven Unbewussten der liberalen, demokratischen und kapitalistischen Gesellschaft entsprungen. Die enormen Möglichkeiten der Verhaltenslenkung durch eine umfassende Vernetzung und Zentralisierung locken und ängstigen nicht nur chinesische, sondern auch deutsche Funktionäre. Durch Anreize in der ganzen Lebenswelt erwünschtes Verhalten herstellen, ist ein kybernetisches Ideal.

Und es stimmt ja: Effizienzgewinne durch die Digitalisierung entstehen, weil Verschwendung vermieden und vorhandene Ressourcen besser ausgelastet werden. Produktiv ist Digitaltechnik als Steuerung – und daher kann sie ihr Potential am besten gesamtgesellschaftlich entfalten, als natürliches Monopol und Gemeingut, als Datenverarbeitung, die eben alles und jeden erfasst. Der Nutzen der Suchmaschine Google beispielsweise beruht darauf, dass sehr viele Menschen sie benutzen. Wegen der Netzwerkeffekte sind viele Suchmaschinen weniger effizient als eine einzige. Solche Netzwerkeffekte finden sich überall, wo Digitaltechnik sinnvoll eingesetzt werden kann, ob im Verkehr oder der Landwirtschaft, in der industriellen Fertigung oder der Krankenversorgung. Kollektive Effizienz widerspricht aber grundsätzlich dem Bedürfnis von Einzelnen nach Privatheit.

Zugegeben, der chinesische Polizeistaat setzt die Möglichkeiten der KI wie Gesichts-, Bild- und Texterkennung rücksichtslos ein, um Oppositionelle zu verfolgen und missliebige Meinungen zu unterdrücken. Allerdings existieren für private Unternehmen durchaus Hürden durch den chinesischen Datenschutz und westliche Staaten nutzen die gleichen Überwachungspotentiale, wenn auch nicht in gleichem Umfang. Auch in dieser Hinsicht unterscheiden sich also die beiden Systeme weniger, als die Autorinnen von „Kapitalismus geht auch ohne Demokratie“ glauben. In ihrer Geschichte wird die Entwicklung von technischen Fortschritten vorangetrieben. Aber die Unterschiede zwischen dem "Staatskapitalismus" dort und dem "Marktkapitalismus" hier sind deutlich geringer, als sie annehmen. Außerdem fallen sie wie viele Kommentatoren auf die Propaganda des chinesischen Staates herein, dessen Industrie- und Handelspolitik (Made in Chia 2015, Belt and Road Initiative) weit weniger erfolgreich ist, als er selbst behauptet. Wahr ist: er setzt sich über den Interessenpluralismus hinweg, legt die Richtung der ökonomischen Entwicklung fest (indem er beispielsweise Investitionen in den Immobilienmarkt behindert) und mobilisiert Investitionen. Die bestehenden Unterschiede zwischen den "Systemen" sind makroökonomisch. Der Einsatz der Technik ähnelt sich durchaus.

Montag, 8. Juli 2019