Dienstag, 16. Juli 2019

Die Digital-Diktatur der anderen

Der Beitrag „Kapitalismus geht auch ohne Demokratie“, Anfang Juni in der Zeit erschienen, ist nicht mehr so richtig frisch. Ehrlich gesagt würde er wahrscheinlich im Discounter meiner Wahl schon einen dieser "30 % Rabatt"-Aufkleber verpasst bekommen. Dennoch lohnen sich einige Anmerkungen, glaube ich, denn dieser kurze Artikel steht beispielhaft für die verzerrte Wahrnehmung Chinas - und die verzerrte Selbstwahrnehmung des sogenannten Westens.

Verfasst haben den Text Thomas Beschorner (Professor an der Universität St. Gallen), Léa Steinacker (Magazin ada) und Miriam Meckel (beides). Ada ist eine Tochter des Handelsblatts mit ganz viel Digitalisierung. Die Autorinnen behaupten, kurz gefasst: die Volksrepublik China könne wegen der Fortschritte in der Informationstechnik in der Lage sein, die europäischen und nordamerikanischen Staaten wirtschaftlich zu übertreffen. Durch umfassende Datenerhebung und deren automatische Auswertung (mittels "Künstlicher Intelligenz") werde erstmals in der Geschichte eine effiziente zentrale Planung der Produktion möglich. Westliche – „liberale“ – und asiatische – „diktatorische“ – Gesellschaften stünden daher in einem „Systemwettbewerb“.

An dieser Darstellung wäre vieles richtig zu stellen, aber ich will mich auf einen Aspekt beschränken. Die neue Angst vor der Gelben Gefahr beruht auf der wachsenden Weltmarktkonkurrenz, nicht auf (zweifellos vorhandenen) Unterschieden der Herrschaftsform. Die Digitalisierung sorgt sogar dafür, dass sie einander in gewisser Hinsicht ähnlicher werden.

Der westliche Blick auf China ist verzerrt durch Angst und Begehren. Deutlich wird dies am „Social Credit Score“, der als „umfassendes gesellschaftliches Steuerungssystem, das 2020 landesweit verpflichtend zum Einsatz kommen soll“, beschrieben wird. Aber obwohl unzählige Fernsehbeiträge und Berichte und sogar einige Bücher dieses Punktesystem zum Paradebeispiel für die chinesische Digital-Diktatur stilisiert haben, gibt es in Wirklichkeit kein einheitliches System der Bewertung der Bürger in China, ein solches System ist auch nicht in Planung.

Dass dieses Missverständnis trotz vieler Korrekturversuche beharrlich weiterverbreitet wird, ist kein Zufall. Bei der Geschichte vom Social Credit System als Waffe in der Hand des chinesischen Big Data Brother handelt es sich um eine Projektion im psychoanalytischen Sinn: Eigenes wird abgespalten und anderen zugeschrieben. Keine individuelle Fehlleistung natürlich, sondern aus dem kollektiven Unbewussten der liberalen, demokratischen und kapitalistischen Gesellschaft entsprungen. Die enormen Möglichkeiten der Verhaltenslenkung durch eine umfassende Vernetzung und Zentralisierung locken und ängstigen nicht nur chinesische, sondern auch deutsche Funktionäre. Durch Anreize in der ganzen Lebenswelt erwünschtes Verhalten herstellen, ist ein kybernetisches Ideal.

Und es stimmt ja: Effizienzgewinne durch die Digitalisierung entstehen, weil Verschwendung vermieden und vorhandene Ressourcen besser ausgelastet werden. Produktiv ist Digitaltechnik als Steuerung – und daher kann sie ihr Potential am besten gesamtgesellschaftlich entfalten, als natürliches Monopol und Gemeingut, als Datenverarbeitung, die eben alles und jeden erfasst. Der Nutzen der Suchmaschine Google beispielsweise beruht darauf, dass sehr viele Menschen sie benutzen. Wegen der Netzwerkeffekte sind viele Suchmaschinen weniger effizient als eine einzige. Solche Netzwerkeffekte finden sich überall, wo Digitaltechnik sinnvoll eingesetzt werden kann, ob im Verkehr oder der Landwirtschaft, in der industriellen Fertigung oder der Krankenversorgung. Kollektive Effizienz widerspricht aber grundsätzlich dem Bedürfnis von Einzelnen nach Privatheit.

Zugegeben, der chinesische Polizeistaat setzt die Möglichkeiten der KI wie Gesichts-, Bild- und Texterkennung rücksichtslos ein, um Oppositionelle zu verfolgen und missliebige Meinungen zu unterdrücken. Allerdings existieren für private Unternehmen durchaus Hürden durch den chinesischen Datenschutz und westliche Staaten nutzen die gleichen Überwachungspotentiale, wenn auch nicht in gleichem Umfang. Auch in dieser Hinsicht unterscheiden sich also die beiden Systeme weniger, als die Autorinnen von „Kapitalismus geht auch ohne Demokratie“ glauben. In ihrer Geschichte wird die Entwicklung von technischen Fortschritten vorangetrieben. Aber die Unterschiede zwischen dem "Staatskapitalismus" dort und dem "Marktkapitalismus" hier sind deutlich geringer, als sie annehmen. Außerdem fallen sie wie viele Kommentatoren auf die Propaganda des chinesischen Staates herein, dessen Industrie- und Handelspolitik (Made in Chia 2015, Belt and Road Initiative) weit weniger erfolgreich ist, als er selbst behauptet. Wahr ist: er setzt sich über den Interessenpluralismus hinweg, legt die Richtung der ökonomischen Entwicklung fest (indem er beispielsweise Investitionen in den Immobilienmarkt behindert) und mobilisiert Investitionen. Die bestehenden Unterschiede zwischen den "Systemen" sind makroökonomisch. Der Einsatz der Technik ähnelt sich durchaus.