Mittwoch, 21. Dezember 2022

UN-Umweltdiplomatie in der Sackgasse

Die Weltnaturkonferenz in Kanada ist zu Ende. Bei Telepolis schätze ich das Ergebnis ein - es ist, wie der Engländer sagt, underwhelming - und kritisiere grundsätzlich, wie die sogenannten Staatengemeinschaft mit der ökologischen Krise umgeht.
Würden ohne die Verträge mehr Treibhausgase ausgestoßen, mehr Pestizide angewandt und größere Waldflächen abgeholzt? Zugespitzt gefragt: Ist die Umweltschutz-Diplomatie unter dem Dach der UN überhaupt Teil der Lösung oder vielmehr Teil des Problems?

Mittlerweile geht es auf der großen Bühne der Weltpolitik zu wie auf einem Bazar: Die Staaten schachern mit den natürlichen Ressourcen, als handle es sich sie ihr legitimes Eigentum. Die Regierungen treten gleichsam als Treuhänder der Biosphäre auf, damit des Lebensrechts der Menschheit, staatsrechtlich durchaus fragwürdig – niemand hat ihnen dazu ein Mandat erteilt. Im Wandertheater der Gipfeltreffen wird eine tragische Farce aufgeführt oder auch eine lächerliche Tragödie. Das Stück hat eine nicht zu unterschätzende ideologische Nebenwirkung: Es nährt die Illusion, die sogenannte Staatengemeinschaft sei fähig, auf die ökologische Krise angemessen zu reagieren.

Montag, 19. Dezember 2022

Fun fact # 60: Familie

Stewart Copeland war Schlagzeuger der englischen Popgruppe The Police. Sein Vater Miles Copeland arbeitete für die CIA und war an führender Stelle daran beteiligt, die demokratisch gewählten Regierungen in Syrien (1949) und im Iran (1953) zu stürzen.

COP15: Ein Teil des Problems

Die UN-Konferenz zum Schutz der Biodiversität ist zu Ende. Ich habe letzte Woche einen Artikel bei Telepolis zum Thema veröffentlicht, gewohnt hoffnungsfroh:
Mittlerweile kennen wir die Dramaturgie: Die UN-Konferenz wird mit einem Abkommen enden, das "Aufbruchstimmung verbreitet" und "ambitionierte Ziele setzt". Oder vielleicht auch nicht. Die Verhandlungsparteien werden sich gegenseitig loben (und damit unausgesprochen auch sich selbst) oder enttäuscht sein. Vertreter der Zivilgesellschaft werden sich zufrieden oder unzufrieden äußern, mehr war jedenfalls nicht zu erreichen…
Die COP15 in Montreal zeigt, dass die internationale Umweltschutz-Diplomatie ein Teil des Problems ist, kein Teil der Lösung. Nicht etwa deshalb, weil die formulierten Ziele zu wenig ambitioniert sind, wie die internationalen Umwelverbände nach der Konferenz wie üblich monieren. Wäre die Abschlusserklärung ambitionierter, hieße das nur, dem Papier noch mehr Geduld abzuverlangen. Die Bestimmungen sind bedeutungslos, weil der Vertrag keine Kontrollen oder Sanktionen enthält. Die jahrelangen Verhandlungen beschäftigen Wissenschaftler und Funktionäre staatlicher und zivilgesellschaftlicher Organisationen jahrelang, um schließlich in unverbindlichen Absichtserklärungen zu münden. Die USA, das Land mit dem größten Verbrauch der globalen Ressourcen, wird dem Abkommen übrigens nicht beitreten. Dass viele Teilnehmer dieses Ergebnis bejubeln, ist eine tragische Farce.

Viele Umweltschützer verteidigen die internationalen Verhandlungen als alternativlos, als das kleinere Übel gegenüber einer ungeregelten Aneignung und Zerstörung der natürlichen Ressourcen. Die UN-Abkommen lenken sie allerdings lediglich in geregelte Bahnen. Würden ohne die Verträge wirklich mehr Treibhausgase ausgestoßen, mehr Pestizide angewandt und größere Waldflächen abgeholzt? Das Wandertheater der Gipfeltreffen nährt die Illusion, die sogenannte Staatengemeinschaft sei fähig, auf die ökologische Krise angemessen zu reagieren. Die Öko-Diplomatie legitimiert die verhandelnden Staaten gleichsam als Treuhänder der Biosphäre, damit des Lebensrechts der Menschheit. was mir demokratietheoretisch zweifelhaft scheint: Niemand hat den Regierungen dazu ein Mandat erteilt.

Seit der COP27 in Ägypten drängen die Interessensgegensätze zwischen den industrialisierten und den ärmsten Ländern immer stärker in den Vordergrund. Es geht darum, wie hoch die internationalen Geldtransfers ausfallen. Die Fronten verlaufen mitnichten entlang der Grenze zwischen Globalem Süden und Globalem Norden. Die großen Agrarmächte des Südens (Brasilien, Argentinien, Indien, Indonesien) wehren sich ebenso gegen Umweltschutz-Auflagen, die ihre Exportgüter verteuern würden, wie Europa oder Japan. Andere Länder mit sehr artenreichen Naturräumen haben erkannt, dass sie Biodiversität in Geld umsetzen können. Umstritten ist der Preis.

Die subsaharischen Staaten Kamerun, Uganda und die Demokratische Republik Kongo außerdem Indonesien und Brasilien, wollten bei der COP15 erreichen, dass ein eigener internationaler Fonds für den Schutz der Biodiversität eingerichtet wird, zusätzlich zur Globalen Umweltfazilität der UN, mit bereits der Naturschutz finanziell unterstützt wird. Damit konnten sie sich nicht durchsetzen. Während der letzten Verhandlungsnacht spielten sich unwürdige Szenen ab, als trotz Protest der zentralafrikanischen Regierungen von der chinesischen Verhandlungsführung eine Einigung verkündet wurde. Ein Vertreter von Kamerun sprach daraufhin von „Betrug“, ein Vertreter Ugandas von einem „Putsch“.

Nun sollen jährlich 30 Milliarden Dollar für die Biodiversität an die Entwicklungsländer fließen. Die NGO-Szene hat sich mit aller Kraft dafür eingesetzt, diese Summe nach oben zu treiben. Aber Geldtransfer nutzt nichts, wenn er dysfunktionalen Regierungen und korrupten Behörden zugute kommt. Zahlreiche Naturschutzgebiete bestehen lediglich auf dem Papier, nun werden die Paper Parks weiter wachsen. Umweltschutz kann zudem nicht darin bestehen, die einheimische Bevölkerung aus einer vermeintlichen Wildnis fernzuhalten. Die Menschen vor Ort müssen vielmehr am Schutz von Tieren, Pflanzen und Naturräumen interessiert und einbezogen sein. Sie brauchen Alternativen zum Raubbau, konkret: eine nachhaltige (Land-)Wirtschaft, die ihnen Verdienstmöglichkeiten bietet. Und dies gilt nicht nur für die afrikanische Provinz, sondern für alle Weltregionen.

Das vorherrschende Verständnis von Ökosystemleistungen ist instrumentell. Die Biodiversität erfüllt Funktionen, die sich angeblich auch auf anderem Weg erbringen und in Geldwerten ausdrücken lassen. Die theoretische Monetarisierung der Natur macht die Bepreisung möglich, zum Beispiel den Emissionshandel. Die zugrundeliegenden Annahmen treffen aber offenkundig nicht zu:

Insekten und andere Tiere sind Glieder von Nahrungsketten und formen ökologische Nischen. Ressourcen und ökologischen Abläufe sind keine Dienstleistungen, sondern Abschnitte der stofflichen und energetischen Kreisläufen auf diesem Planeten, die sich nicht sinnvoll aufsummieren lassen. Um ihren monetären Wert zu ermitteln, müssten sie durch andere Leistungen ersetzbar sein (Substituierbarkeit), deren Preise wir kennen. Wenn es um aussterbende Gattungen und destabilisierte Kreisläufe des Erdsystems geht, sind diese Annahme abstrus.

Die Einpreisung der ökologischen Zerstörung und des „Umweltverbrauchs“ hat die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass es auf der großen Bühne der Weltpolitik mittlerweile zugeht wie auf einem Bazar. Die Staaten schachern mit Ressourcen, als seien sie ihr legitimes Eigentum. Aber der Schutz der Biodiversität aus der Ferne wird nicht gelingen. Wenn die Weltmächte das sechste Massensterben aufhalten wollen, müssen sie ihren eigenen Ressourcenverbrauch mindern und die Arten im eigenen Hoheitsgebiet schützen. Stattdessen wird ein System aufgebaut, in dem Länder wie die Demokratische Republik Kongo für den Schutz der Regenwälder bezahlt werden, ähnlich wie die Kompensationsmöglichkeiten beim Emissionshandel: ein ineffektives, widersprüchliches und ungerechtes System.

Donnerstag, 1. Dezember 2022

Mittwoch, 30. November 2022

Wer könnnte ein solches Angebot ausschlagen?

Dienstag, 15. November 2022

Mittwoch, 9. November 2022

Ambrosiakäfer (Xyleborinus saxesenii) betreiben Landwirtschaft. Die Borkenkäfer-Art baut in ihren Nestern in Holz Pilze an, von denen sie sich ernähren, und sie bekämpfen andere Pilzarten wie ein Unkraut. Dabei arbeiten alle Bewohner des Nestes zusammen, einschließlich der Larven.

Auch andere Käferarten, Termiten und Blattschneiderameisen betreiben diese Form der Nischenkonstruktion.

Montag, 31. Oktober 2022

Fun fact # 59: Verkehr

Biobrennstoffe statt fossile Energieträger einzusetzen verringert nicht die Treibhausgas-Emmissionen, weil der landwirtschaftliche Anbau Methan und Lachgas freisetzt.

Quelle

Freitag, 21. Oktober 2022

Tapfere Soldaten im vollbesetzten Panzer - web.de liefert mehr Kriegspropaganda, als ich bestellt habe.

Donnerstag, 20. Oktober 2022

Fun fact # 58: Programmatik

Die Slowakische Republik wird von der Partei "Gewöhnliche Menschen und unabhängige Persönlichkeiten" (OĽaNO) regiert.

Donnerstag, 6. Oktober 2022

Fun fact # 57: Strommarkt

Weil der eingespeiste Strom von Windrädern oft nicht genutzt und nicht gespeichert wird, erhalten die Betreiber Ausgleichszahlungen von der Bundesnetzagentur. Die ausgezahlte Summe für das Einspeisemanagement lag im Jahr 2021 bei 807 Millionen Euro, sechs Prozent mehr als im Vorjahr.

Freitag, 30. September 2022

Ein weiterer Triumph der Menschheit: Ingenieure der Heriot-Watt University in Edinburgh haben ein automatisches System zur Bekämpfung von Kakerlaken entwickelt. Die Schaben werden innerhalb von 1,2 Metern Entfernung mit Video-Mustererkennung identifiziert und dann mit einem Laser beschossen. Mit nicht-tödlichen Laserstrahlen ließen sie sich angeblich auch dazu bewegen, bestimmte Regionen zu vermeiden.

Donnerstag, 22. September 2022

Ich habe Veronika Setteles "Deutsche Fleischarbeit" für Andruck / Deutschlandfunk besprochen, eine Geschichte der Massentierhaltung in Deutschland. Es handelt sich, natürlich, in erster Linie um eine Rationalisierungsgeschichte:

Die industrielle Revolution im Stall hat die Erträge enorm gesteigert. Eine deutsche Durchschnittskuh gab im Jahr 2000 fast dreimal so viel Milch wie fünfzig Jahre zuvor. Die Durchschnittshenne legte fast dreimal so viele Eier.
In den Vereinigten Staaten und über einen längeren Zeitpunkt (zum Beispiel von den 1950er Jahren bis heute) sind die Mengensteigerungen bei Milch, Fleisch und Eiern noch beeindruckender.

In meinem Buch Klima, Chaos, Kapital vom letzten Jahr spielt die agrarische Rationalisierung eine Schlüsselrolle. Sie trägt dazu bei, die relative Prosperität seit den 1970er Jahren und damit den (ebenso relativen) Erfolg der neoliberalen Globalisierung zu erklären. Die Rationalisierung der Landwirtschaft ist ökonomisch nicht nebensächlich, sondern unabdingbar, um zu erklären, wie wir in die gegenwärtige Misere geraten sind!

Die krisentheoretische Pointe daran ist, dass die Fruchtbarkeit des Bodens (in ihren vielen unterschiedlichen Formen) sich mit den bestehenden Methoden kaum noch steigern lässt, beziehungsweise dass diese Methoden die klimatisch-ökologische Krise weiter verschärfen. Die Nahrungsproduktion wurde seit dem 2. Weltkrieg "globalisiert". Sie beruht wesentlich auf weltweiten Stoff- und Energiekreisläufen (Agrarwissenschaftler sprechen in diesem Zusammenhang auch von teleconnections). Entsprechend sind die Folgen global, wenn auch unregelmäßig verteilt.

Um Missverständnissen vorzubeugen: die Produktion von Mehrwert und Nährwert umfasst nicht nur Landmaschine, mineralischen Dünger und den Humus im Boden, Sie umfasst ebenso die Eigentums- und Distributionsformen, die Spekulation an den Weizenbörsen und die staatlichen Subventionen der Brotpreise, die Landarbeit und ihre Reproduktion (und Migration) und vieles, vieles mehr. Eine angemessene Rationalisierungsgeschichte behandelt Natürliches und Gesellschaftliches als (widersprüchliche) Einheit.

Die Vorarbeiten für das Buch waren ziemlich mühsam, weil es keine geschlossene Darstellung dieser Zusammenhänge gibt, jedenfalls habe ich keine gefunden. Agrarsysteme scheinen für die Wirtschaftswissenschaften kein würdiges Thema zu sein. Die Externalisierung der ökologischen Folgen entspricht der Externalisierung der biologischen Grundlagen. Sie werden speziellen Disziplinen überantwortet, deren Ergebnisse fast immer unberücksichtigt bleiben.

Diese Verdrängung steht am Anfang der bürgerlichen Epoche. Die Physiokraten, die den Mehrwert noch aus der Bodenfruchtbarkeit erklärten, verloren jeden politischen und wissenschaftlichen Einfluss. In Wohlstand der Nationen (1776) bringt Adam Smith klar seine Ansicht zum Ausdruck, dass die Natur irrelevant sei:

Wie der Boden, das Klima oder der Umfang einer spezifischen Nation auch beschaffen sein mögen, das reichliche Vorhandensein oder der Mangel an täglichen Versorgungsgütern wird von zwei Faktoren abhängen, nämlich dem Können der Arbeitenden und dem verhältnismäßigen Anteil der nützlichen und der untätigen Mitglieder der Gesellschaft. Nicht die natürlichen, nur die menschlichen Faktoren werden berücksichtigt.
(zitiert nach Karl Polanyi, The Great Transformation, Seite 158)
Diese Perspektive wurde wegweisend und dominant und ist es bis heute geblieben. Die Arbeit entscheidet, sie formt Natur fast widerstandslos, reibungslos um. Diese Behauptung kann aber nur so lange plausibel scheinen, wie die Nebenfolgen der rationalisierten Produktion nicht selbst wieder zum Problem werden oder wenigstens die Rationalsierung "in Summe gelingt". Gerade das ist heute aber nicht mehr der Fall. Die Nebenfolgen zeigen sich nicht nur in Gestalt zerstörter Landschaften und stockender oder ausfallender ökologischer Kreisläufe, sondern auch in Hinblick auf Produktionskosten und Profite. Allerdings trifft es nicht in erster Linie die Kosten und Profite des Agrarkapitals selbst, sondern es zeigt sich in erster Linie an steigenden gesamtökonomischen Kosten, für Energie, Arbeit und Transport und anderes.

Die Methoden, um die landwirtschaftlichen Erträge zu steigern, waren niemals ohne Nebenfolgen, aber sie zeigten sich eben anderswo und später. Sie wurden räumlich und zeitlich verschoben, die Rechnung zahlten andere, zum Beispiel für die Stoffeinträge in die Umgebung der Äcker und Anlagen. Die gelingende Externalisierung beruht deshalb auch auf politischen Voraussetzungen, zum Beispiel einen unterstützenden Staat und eine desinteressierte oder einflusslose Öffentlichkeit. Solche Voraussetzungen können erodieren. Dann müssen die Unternehmen die Kosten internalisieren und die Preise steigen. Die notwendige Internalisierung der gegenwärtigen Nebenfolgen der Nahrungsproduktion würde aber nicht nur das Agrarkapital treffen und vielleicht zu einer Art Modernisierung zwingen, sie würde das schwächliche Weltwirtschaftswachstum gänzlich abwürgen. Und so fahren wir weiter ungebremst in Richtung Kollaps.

Montag, 15. August 2022

Fun fact # 56: Wirtschaftliche Expertise

1997 wurden den Ökonomen Myron Scholes und Robert Merton der Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften verliehen (auch bekannt als der "Wirtschaftsnobelpreis"). Begründet wurde die Ehrung mit ihren finanzmathematischen Modellen für den Aktienhandel. Die beiden leiteten später den Hedgefonds Long-Term Capital Management (LTCM). 1998 geriet der Fonds in Zahlungsschwierigkeiten. Daraufhin wurde er von der US-Regierung mit zusätzlichem Kapital ausgestattet, um eine Finanzkrise zu vermeiden, außerdem senkte die Notenbank den Leitzins. 2000 wurde LTCM aufgelöst.

Der Ökonom Larry Summers war in den 1990er Jahren stellvertretender Finanzminister der USA und an dem Gesetz beteiligt, mit dem die Trennung von Kredit- und Investmentbanken aufgehoben wurde. Von 2001 bis 2006 leitete Summers die Universität Harvard. In seiner Amtszeit setzte er durch, dass die Hochschule einen wachsenden Teil ihres Vermögens in Aktien und Hedgefonds investierte. So entstanden Verluste von annähernd zwei Milliarden Dollar.

Dienstag, 2. August 2022

Globalisierung im Rückwärtsgang

Die stete Ausweitung der grenzüberschreitenden Wertschöpfung ist ins Stocken geraten. Seit Covid-19 kommen die Unternehmen aus dem Krisenmodus nicht mher heraus. Eine "Rückkehr zur Normalität" ist nicht in Sicht - und die Politisierung der Lieferketten durch die wachsenden geopolitischen Spannungen macht den deutschen Unternehmen Sorgen. Kein Wunder, viele sind völlig abhängig von der Nachfrage auf dem Weltmarkt.

Gestern kam bei Zeitfragen / Deutschlandradio Kultur ein Feature von mir zum Thema.

Dienstag, 19. Juli 2022

Klima-Mitigation oder Klima-Adaption - anpassen und / oder aufhalten?

Verkehrsinfrastruktur bricht wegen der Hitze zusammen. Klimaanlagen in Bussen und Zügen fallen aus, die Stromnetze sind überlastet. Die Binnenschifffahrt ist wegen der niedrigen Pegel in den Flüssen gefährdet. Weil Wasser zum Kühlen knapp und zu warm ist, müssen Kraftwerke heruntergefahren oder gedrosselt werden. Die Sterblichkeit in den Risikogruppen steigt.

Verwundert stellt die Öffentlichkeit fest, dass wir den Folgen der Klimakrise nicht gewachsen sind. Ein Kommentar im Tagesspiegel formuliert:

Deutschland ist auf Extremwetter nur auf dem Papier vorbereitet

Ich kann bestätigen, dass die zahlreichen Forschungsgruppen, Anpassungspläne und Subventionen für die Anpassung nichts genutzt haben (abgesehen von sehr seltenen löblichen Ausnahmen, meist stadtplanerischer Art). Zum ersten Mal habe ich mich journalistisch im Jahr 2011 mit der Adaption beschäftigt. Dann noch einmal 2015 (übrigens in einem Radiostück mit dem Titel "Wie Deutschland den Klimawandel verschläft"). Konkret umgesetzt wurde nichts. Eigentlich wurde nicht einmal etwas "geplant", auch nicht durch die "Nationale Anpassungsstrategie" der Bundesregierung. Die Selbst-Beschäftigung der Institutionen erweckte höchstens den falschen Eindruck, dass sich irgendwer schon um das Problem kümmern würde.

Im erwähnten Tagesspiegel-Kommentar kritisiert Susanne Ehrlerding:

Dass bisher zu wenig passiert ist, kann man leicht am Sofortprogramm Klimaanpassung ablesen, das die Bundesregierung im März verabschiedet hat. Es stellt fest, dass es bisher keine Zuständigkeit für eine systematische und flächenhafte Förderung von Investitionen in die Klimaanpassung gibt. Ein Ziel war, empfindliche Bevölkerungsgruppen und Einrichtungen stärker bei der Klimaanpassung zu berücksichtigen. Aber wie genau? Zwingend vorgeschrieben wurden Hitzeaktionspläne jedenfalls nicht.
"Aktionspläne zwingend vorzuschreiben" führt nicht sehr weit. Es nutzt auch wenig, Angehörige von Risikogruppen mit SMS-Nachrichten zu warnen, wie es beispielsweise Frankreich tut, wenn ihnen dann keine konkrete Hilfe angeboten werden kann.

Der Schlüssel für eine sinnvolle Anpassung sind öffentliche Infrastrukturen, Versorgungsnetze für Energie, Wärme, Wasser und Kommunikation, aber auch soziale Strukturen in den Bereichen Bildung, Kultur, Krankenversorgung, Pflege und Sozialleistungen. Es braucht kollektive und einheitliche Lösungen.

Das gilt nicht zuletzt deshalb, weil Adaption und Mitigation sich oft widersprechen. Wir erleben es gerade: Wegen der niedrigen Pegelstände verlagert sich Fracht auf die Straße. Für die Kühlung wird mehr Strom verbraucht. Das führt zu noch mehr Treibhausgasen. Die Menschen kaufen sich Klimanlagen für ihre Wohnungen - müssen es zum Teil, es gibt ja keine öffentlichen Alternativen - und erhitzen den Nahraum um ihre Häuser weiter. Was kurzfristig hilft, schadet langfristig - wenn es die Treibhausgaskonzentration weiter erhöht. In vielen Fällen verschärfen auch individuelle Verhaltensweisen die Lage von anderen Menschen: Was kurzfristig den einen hilft, schadet anderen.

Adaption kann Mitigation verhindern. Aber wenn die Emmissionen weiter steigen, ist jede Anpassungsstrategie chancenlos, egal wie viele Milliarden Euro dafür fließen. Wir brauchen eine Anpassung ans Unvermeidliche, die gleichzeitig die ökologische Krise entschärft oder wenigstens nicht weiter verschlimmert. Wir brauchen einen Plan, der alle gesellschaftlichen Bereiche umfasst und sich beherzt über die Kapitalinteressen und Staatenkonkurrenz hinwegsetzt.

In meinem Radiofeature von 2015 habe ich das Problem so ausgedrückt:

Klimaschutz und Klimaanpassung können sich durchaus widersprechen. Anpassung kann sogar zu einem Nullsummenspiel werden, etwa wenn Fluss-Anrainer versuchen, den eigenen Deich ein Stückchen höher zu bauen als ihr Nachbar. Die Bevölkerung wird sich so oder so an die veränderten Umweltbedingungen anpassen. Die Frage ist, wie gezielt und wie vernünftig sie es tun wird.
Die Klimakrise eskaliert rasend schnell. Dass sie eskalieren wird, habe ich seit ungefähr fünf Jahren erwartet und, mit meiner schwachen Stimme, auch gesagt. Das befriedigt mich allerdings überhaupt nicht. Ich spüre keine Schadenfreude, schließlich habe ich ihn selbst auch. Es ist durchaus möglich, dass ab jetzt alle kommenden Sommer ähnlich heiß und trocken werden. Vielleicht habe wir Glück, dann kommen wir ein oder zwei Jahre glimpflich davon. Vielleicht sogar länger. Mittelfristig werden sich extreme Hitzesommer unvermeidlich häufen. Die Agrarkrise, die ich in Klima Chaos Kapital skizziert habe, kam schneller, als ich mir vorstellen konnte, angetrieben durch den russischen Überfall auf die Ukraine. Aber selbst wenn dieser Krieg bald enden würde, wird sie kaum nachlassen.

In meinem Buch habe ich versucht, plausibel zu machen, dass jede Strategie der Anpassung und Milderung innerhalb der bestehenden Macht- und Eigentumsstrukturen aussichtslos ist und gleichzeitig unsere Zivilisation auf dem Spiel steht. Eigentlich habe ich in Wirklichkeit mich selbst davon überzeugt. Ich habe mich zu einer realistischen Analyse gezwungen, weil ich gerne andere Alternativen sehen würde. Dann stünden unsere Chancen besser.

Sonntag, 17. Juli 2022

Der Fluch des Alters besteht im Erinnern. Früher war alles anders. Scheint es mir, aber vielleicht war einfach nur ich ganz anders. Nämlich jünger. Weniger müde und weniger mürrisch.

Whatever. Ich als alter Mann meine mich jedenfalls daran zu erinnern, dass früher weniger über Umgangsformen im öffentlichen Raum geredet wurde. Mittlerweile nimmt die Frage, welche Formulierung zu weit ging und welche Gefühle von wem verletzt hat, breiten Raum ein. So breit, dass für die eigentlichen Streitpunkte kein Platz übrig bleibt. Aber so scheint es nur, oberflächlich betrachtet. In Wirklichkeit werden Standpunkte ausgeschlossen, für unanständig erklärt, tabuisiert.

Die Grenzen meiner Sprachen sind die Grenzen meiner Welt, sagt Wittgenstein. Philosophisch fragwürdig, finde ich, aber ganz richtig bezogen auf die politische Kommunikation im späten Neoliberalismus: Die Grenzen des Sagbaren sind die Grenzen des Denkbaren.

Freitag, 15. Juli 2022

Samstag, 9. Juli 2022

Können Psychologen und Sozialarbeiter Polizisten ersetzen?

Städte wie Denver in den Vereinigten Staaten machen bestimmte Polizeieinsätze überflüssig. Seit zwei Jahren kommen bei bestimmten Notrufen keine bewaffneten Uniformierten mehr, sondern psychologisch geschulte Pflegekräfte. Das Programm Support Team Assisted Response (STAR) übernimmt in einigen Stadtteilen alle Fälle, bei denen "Individuen eine Krise durchleben, die mit ihrer psychischen Gesundheit, Armut, Obdachlosigkeit oder Drogenmissbrauch zu tun hat". STAR scheint durchaus erfolgreich zu sein - es ist deutlich billiger und offenbar auch effizienter als Polizeieinsätze. Es vermeidet überflüssige Konflikte und führt die Betroffenen, wenn es gut läuft, direkt den zuständigen Sozialeinrichtungen zu.

In den USA hat die massenhafte Empörung über Polizeigewalt - Stichwort Black lives matter - eine Reformdebatte angestoßen. Wofür die Polizei eigentlich zuständig ist und was sie leistet, ist mit Recht umstritten. Davon inspiriert legen die Kriminologen Tobias Singelnstein und Benjamin Derin nun eine Untersuchung über die Situation hierzulande vor. Ich habe ihr Buch für Andruck / Deutuschlandfunk besprochen und, wie üblich mit gewissen Einschränkungen, empfohlen.

Singelnstein und Derin warnen vor einer Verselbständigung der Polizei. Sie sei mächtiger geworden:

Je zentraler die innere Sicherheit in der politischen Auseinandersetzung, umso mehr wächst der Einfluss der Polizei, argumentieren die Autoren. Wenn Abgeordnete sich mit Initiativen für „Gesetz und Ordnung“ profilieren wollen, brauchen sie ein harmonisches Verhältnis zu den Sicherheitsbehörden. Außerdem liefern die Behörden die statistischen Zahlen über die Kriminalitätsentwicklung, mit denen Erfolg und Misserfolg der Amtsträger:innen gemessen wird. Kurz, die Konfrontation mit der Polizei ist politisch gefährlich.
Aber Machtgewinn ist nur die eine Seite der Medaille:
Die Kehrseite davon sei, dass immer mehr Aufgaben an die Behörde herangetragen werden. Sie soll Ordnung schaffen, Streit schlichten, Gewalt verhindern oder auch einfach nur Obdachlose und Ruhestörer vertreiben.
Etwas kurz kommt in dieser Analyse ein anderer Umstand; vielleicht, weil er nicht recht zu der politischen Stoßrichtung der beiden liberalen Kriminologen passt. Die Polizei hat viel ihrer Autorität eingebüßt. Die Beamten merken es an Respektlosigkeit, Widerspruch, an passivem und manchmal auch aktivem Widerstand.

Diese Konflikte tauchen in diesem Buch kaum auf, und wenn, dann nur als Folge von Kommunikationsproblemen oder einem überholten Selbstbild als Gesetzeshüter, der Gehorsam verlangt. Im polizeilichen Alltag ist aber nicht nur die handgreifliche körperliche Gewalt umstritten – der überflüssige Tritt oder Schlag –, sondern die staatliche Zwangsmaßnahme als solche, unabhängig von ihrer mehr oder weniger brutalen Form. Die linksliberale Polizei- und Justizkritik akzeptiert diesen Tatbestand höchstens widerwillig. Sie hofft nämlich, die Rechtsdurchsetzung in der bürgerlichen Gesellschaft ließe sich in einen herrschaftsfreien Diskurs auflösen. Aber Polizisten können nicht zu Sozialarbeitern in Uniform werden und Konfliktlotsen "den starken Arm der Eigentumsordnung" nicht ersetzen.

Dienstag, 5. Juli 2022

Hinterlistige Viren

Das Zika- und das Dengue-Virus sind wahrscheinlich in der Lage, den Geruch ihrer Wirtstiere zu verändern, um ihre Verbreitung zu verbessern. Aufgrund von Experimenten mit Mäusen vermuten Forscher, dass die Viren die Bakterienvermehrung auf der Haut fördern, um so Stechmücken anzulocken.

'Google Autocomplete' sagt manchmal mehr als lange politökonomische Analysen.

Montag, 27. Juni 2022

Wann erregt eine gesundheitliche Notlage Besorgnis?

Die Weltgesundheitsorganisation hat entschieden, die gegenwärtige Epidemie der Affenpocken nicht zu einer 'gesundheitlichen Notlage von internationaler Tragweite' zu erklären. Ich finde diese Entscheidung falsch, denn um den Ausbruch einzudämmen, muss schnell - jetzt! - gehandelt werden. So ließe sich hoffentlich noch verhindern, dass sich das endemische Gebiet ausweitet oder dass das Virus sich in Risikogruppen dauerhaft einnistet.

Möglicherweise wurde die Entscheidung der WHO, wie so oft, von politischer Symbolik diktiert. Denn bekanntlich grassieren die Affenpocken in zentral- und westafrikanischen Ländern seit Jahren. Seit 2017 bringen sie immer mehr Menschen ins Krankenhaus und verursachen eine steigende Zahl von Todesfällen. Die entsprechenden Warnungen afrikanischer Wissenschaftler wurden weitgehend ignoriert. Und während der Ausbruch außerhalb von Afrika seit Mai bisher nur einen Menschen das Leben gekostet hat, waren es in den fünf Ländern, wo die Affenpocken endemisch sind, seit Anfang des Jahres bereits 69. Epidemiologen und Mediziner aus dem Globalen Süden sind verständlicherweise befremdet, dass der Ausbruch erst interessiert, seit Weiße sterben. Jetzt die Affenpocken zum Notfall zu erklären, wäre mehr als peinlich gewesen.

Für die Schweizer Wochenzeitung habe ich einen Artikel über die Vorgeschichte der Epidemie geschrieben (Paywall). Mittlerweile ist es oft gesagt worden, aber ich sage es trotzdem noch einmal: Wo lassen sich neuartige Infektionen bekämpfen? Dort, wo sie entstehen. Wie lassen sie sich bekämpfen? Durch Naturschutz und Wiederaufforstung und durch Gesundheitsversorgung für alle.

Donnerstag, 16. Juni 2022

Mittwoch, 15. Juni 2022

Die nächste Zoonose

Jetzt also die Affenpocken. Der gegenwärtige internationale Ausbruch belegt abermals, dass Zoonosen zu einer wachsenden Gefahr geworden sind. Und abermals wiederholt sich das Trauerspiel der internationalen Seuchenbekämpfung, die einfach nicht in der Lage zu sein scheint, das Problem an der Wurzel zu packen - die Epidemien dort zu bekämpfen, wo die Spillover stattfinden und neuartige Infektionen grassieren und wo die Bevölkerung medizinisch nicht ausreichend versorgt wird. Stattdessen kaufen sich die Länder des Globalen Nordens erneut gegenseitig die verfügbaren Impfstoffe vor der Nase weg ... alles wie gehabt also.

Die Situation ist, naturgemäß, im Fluß. Für den Freitag habe ich eine erste Zusammenfassung geschrieben.

Pandemien nehmen unterschiedliche Formen an. Manche Krankheitserreger (neue Influenza-Stämme etwa) machen kaum Unterschiede und befallen innerhalb kurzer Zeit große Teile der Bevölkerung. Andere Erreger sind weniger ansteckend. Sie verbreiten sich langsamer, manchmal anfangs nur in bestimmten sozialen Gruppen. Aber auch solche Infektionen können schwere Krankheiten verursachen und langfristig viele Menschenleben kosten – und diese Gefahr besteht bei den Affenpocken durchaus. Wir sollten es mit der Gelassenheit auf keinen Fall übertreiben: Wenn das Virus sich in den kommenden Wochen neue Regionen und Populationen erschließt, kann niemand sagen, welche Ausprägungen die Krankheit annehmen wird.

Montag, 16. Mai 2022

Mittwoch, 11. Mai 2022

Für Naturschutz herkömmlicher Art ist es zu spät

Wie weit reicht die Kontrolle der außermenschlichen, aber auch unserer eigenen Natur? Diese Frage ist angesichts der eskalierenden ökologischen Krise die wohl wichtigste überhaupt. Der Journalist Nathaniel Rich hat eine Sammlung von Reportagen veröffentlicht, die auf die ein oder andere Art um sie kreisen. Für Andruck habe ich sein Buch "Die zweite Schöpfung" rezensiert.
Die Menschheit hat die bisherigen Landschaften, Nahrungsketten und auch die Kreisläufe des Klimasystems bereits zu stark verändert, als dass noch ein Weg „zurück zur Natur“ führen würde. Der frühere Zustand der Ökosysteme lässt sich nicht wiederherstellen. Aber natürlich müssen wir das Überleben wenigstens einiger Tiere, Pflanzen und Naturräume gewährleisten, schon um unsere eigene Existenz zu sichern. In dieser Situation wird die ökologische Frage gleichzeitig dringlicher und schwieriger zu beantworten.
Rich schreibt witzig, angesichts des todernsten Themas nicht leicht, aber es gelingt ihm, seine Geschichten sind spannend. Ärgerlich finde ich seine Ignoranz gegenüber allen Denktraditionen, die nicht gerade zwischen der Ost- und der Westküste der Vereinigten Staaten entstanden sind. Hätte er beispielsweise Günther Anders Schriften gekannt, wären seine Ausführungen klarer und besser geworden. Aber immerhin zeigt er, wie ökologische Reformen scheitern (wenn auch nicht unbedingt, warum).

Mittwoch, 27. April 2022

Heftiges Metaphern-Gewitter bei web.de

Montag, 25. April 2022

Fun fact # 56: Karrierewege

Der britische Premierminister Boris Johnson studierte an der Universität Oxford. In seinem Kabinett sind drei weitere ehemalige Oxforder Kommilitonen vertreten: Michael Gove, der wie Johnson Parteivorsitzender werden wollte, der Finanzminister Rishi Sunak und der Brexit-Minister Jacob Rees-Mogg. Auch Johnsons ehemaliger Berater Dominic Cummings studierte in Oxford, so wie Keir Starmer, der „Anführer der Opposition“ und Labour-Vorsitzender.

Johnsons Vorgängerin Theresa May (im Amt 2016 -2019) studierte in Oxford, so wie deren Vorgänger David Cameron (2010-2016). Tony Blair (1997-2007) und Margaret Thatcher (1979-1990) studierten dort. Fast alle Premierminister seit dem Zweiten Weltkrieg waren in Oxford: Clemens Attlee (1945-1951), Anthony Eden (1955-1957), Harold Macmillan (1957-1963), Alec Douglas-Home (1963-1964), Harold Wilson (1964-1970) und Edward Heath (1970-1974). 28 von insgesamt 63 britischen Regierungschefs seit dem Jahr 1721 kamen aus Oxford.

Montag, 11. April 2022

Fun fact # 55: Dunkelziffer

Im gegenwärtigen Covid-19-Ausbruch in Shanghai wird die Bevölkerung fast flächendeckend mit PCR-Verfahren getestet. Das Verhältnis zwischen den Infektionen mit und solchen ohne Symptome lag am Sonntag laut Angaben der Behörden bei 914 zu 25 173.

Dabei ist allerdings zu beachten, dass die städtischen Behörden angeblich "symptomlos" als "klinisch nicht relevant" definieren, einige milde Verläufe dürften also zu der großen Mehrheit der Fälle hinzufügen sein.

Dienstag, 22. März 2022

Eine Welt - oder keine Welt


Die kapitalistische Globalisierung hat eine Welt geschaffen und gleichzeitig die Interessensgegensätze zwischen den "nationalen Wettbewerbsstaaten" äußerst gesteigert. Die internationale Arbeitsteilung und die gegenseitige Abhängigkeit durch globale Wertschöpfungsketten sind immer größer geworden (ein Prozess, der, je nach Zählweise und Definition, fünf Jahrzehnte oder acht Jahrzehnte oder sogar über zwei Jahrhunderte andauerte). Was bedeuten die "Schwächung des Multiateralismus", die geopolische Eskalation durch den Krieg in der Ukraine und die immer schärfere Konfrontation zwischen den Weltmächten? Darüber habe ich für Telepolis einen zweiteiligen Artikel geschrieben.

Teil 1: Der Ukraine-Krieg als Menetekel

Teil 2: Ein Wendepunkt der Globalisierung

Ein Aspekt der umfassenden Krise ist die "Welle der Autokratisierung". Meines Erachtens dürfen wir den Populismus mit seiner Fixierung auf Personen nicht mit ebenso populistischen Theorie erklären. Um es zuzuspitzen, die Nationen bekommen die "starken Führer", die sie verdienen. Die Massenbasis des Nationalismus ist das eigentliche Problem.

Die kapitalistische Globalisierung hat die Möglichkeiten, das eigene Leben ohne Lohnarbeit und unabhängig von den Weltmärkten zu erhalten, zerstört und die soziale Ungleichheit extrem gesteigert, sodass heutzutage die einen zum Spaß ins All fliegen, während die anderen an Masern sterben, wie in Afghanistan gerade der Fall. Sie hat tatsächlich eine Welt geschaffen – eine integrierte, wenn auch tief gespaltene Einheit. Die Komponenten unserer Telefone und die Zutaten für unser Essen überqueren zahllose Ländergrenzen und sogar Kontinente. Die Treibhausgase, die hierzulande freigesetzt werden, verändern die Niederschläge in Indien. Die Infektionen, die in China entsteht, erreichen Deutschland innerhalb weniger Tage.

Eine Strategie, die in dieser Lage auf Aufrüstung und Abschottung setzt, ist aussichtslos. Sie wird die Abfolge immer neuer Katastrophen nur beschleunigen. Nationale Souveränität ist objektiv anachronistisch in einer Welt, in der sich das Schicksal einer Nation auf dem ganzen Planeten entscheidet (jedenfalls wenn darunter nationale Selbstbestimmung verstanden wird).

Zwar spricht einiges dafür, Landwirtschaft und industrielle Fertigung möglichst dort anzusiedeln, wo die Erzeugnisse konsumiert werden, weil sonst für den Transport Treibhausgase freigesetzt werden müssen. Dennoch ist der weltweite Austausch von Wissen, Lebensmitteln und Rohstoffen gerade wegen der Klimakrise notwendiger denn je. Nur so lassen sich Missernten und andere Folgen extremerer Wetterlagen abfedern. Nur so können die erneuerbaren Energiequellen in vollem Maß ausgeschöpft werden. Und nur wenn sich die Lebenschancen weltweit angleichen, ist ein gemeinsames Vorgehen überhaupt vorstellbar.

So utopisch das klingt, ist es doch realistischer als die Politik einer Regierung, die beispielsweise angesichts steigender Energiepreise ernsthaft einen Rabatt an der Tankstelle vorschlägt. Aber nicht nur die politische Klasse leidet unter Realitätsverlust. Vielmehr bedienen die Politiker echte Bedürfnisse des Wahlvolks – nach Beruhigung, Bestätigung und tauglichen Feindbildern.

Diese Politik zehrt von der Angst. So verständlich und angebracht dieses Gefühl sein mag, so schädlich ist die Neigung, schlechte Beruhigungsmittel zu sich zu nehmen. Zu akzeptieren, dass es nicht mehr weitergeht wie bisher, fällt schwer. Gerade die krisenhaften Seiten der Globalisierung – ausländische Autokraten, Migration, internationale Wirtschaftskonkurrenz, Klimawandel – wecken Wunschvorstellungen von nationaler Souveränität und Autarkie. Es ist der Traum vom Rückzug hinter sichere Mauern und der Rückkehr zum gewohnten Alltag, "Deutschland normal" oder ein Bullerbü hinter Stacheldraht. Dieser Weg ist versperrt.

Freitag, 18. März 2022

Mittwoch, 2. März 2022

Neuartige Erreger und ökologische Zerstörung:
zwei Seiten derselben Krise?

Auf Einladung von Ver.di und GEW Hamburg habe ich letzten Sonntag über dieses Thema referiert. Ab Minute 32 beginnt mein Vortrag (aber natürlich lohnen sich auch die anderen Beiträge). Ich habe mich bemüht, die Pandemie-Gefahr und geeignete Gegenmaßnahmen ausgewogen darzustellen und zwei, drei gesundheitspolitische Folgerungen zu ziehen.

Wegen eines Sturms war an diesem Tag der Zugverkehr weitgehend zusammengebrochen. Ich hatte sechs anstrengende Stunden hinter mir, um nach Hamburg zu kommen, und schaffte es mit Verspätung gerade noch rechtzeitig. Entsprechend atemlos klingt mein Vortrag, denn ich stolpere nach einem Dauerlauf vom Hauptbahnhof geradewegs auf die Bühne ...

Die Cholera in Hamburg: ein seuchengeschichtliches Lehrstück

Für die Sendung Andruck beim Deutschlandfunk habe ich Richard Evans Klassiker "Tod in Hamburg" besprochen. Das Buch wurde gerade neu aufgelegt. Die Relektüre zeigt verblüffend viele Verbindungen zwischen der Cholera des 19. Jahrhunderts und den Betacoronaviren des 21. Jahrhunderts: die entscheidende Rolle der sozialen Ungleichheit, das komplexe, oft widersprüchliche Verhältnis von Wissenschaft und Politik, die Suche nach alternativen Heilmethoden, Gerüchte und Verschwörungstheorien, die Hilfslosigkeit der Medizin. Merke:
Ob ein Krankheitserreger sich epidemisch verbreitet, welche Formen die Krankheit annimmt, ob und mit welchen Mitteln sie bekämpft wird – all das ist untrennbar mit den sozialen und politischen Gegebenheiten verwoben.

Montag, 28. Februar 2022

Ewiges Rätsel Unterschicht: Warum verhalten sich die Proleten ungesund?

Die Sendung Wissenschaft im Brennpunkt beim Deutschlandfunk widmet sich der Frage, wie "die Pandemiepolitik nicht nur Privilegierte erreichen kann". Eine sozialmedizinische Analyse von Covid-19 ist tatsächlich überfällig: Warum werden einkommensarme, erwerbslose und arbeitslose Menschen häufiger krank, warum sterben sie häufiger? Welche Maßnahmen sind notwendig, um ihnen zu helfen?

Leider enttäuscht diese Sendung, trotz kundiger Interviewpartner, aber dies auf instruktive Weise: Sozialmedizin ohne soziale Kritik geht an den (Gesundheits-)Problemen der unteren Schichten vorbei. Der Beitrag zeigt exemplarisch, woran gut gemeinte Gesundheitspolitik scheitert. Denn hinter der Leitfrage, wie die "Pandemiepolitik" mehr Menschen erreichen kann, verbirgt sich in Wirklichkeit nichts anderes als das Problem, dass die Impfquoten in eher migrantischen und eher ärmeren Stadtvierteln und Kommunen durchschnittlich niedriger liegen.

Im Verlauf der Sendung stellte sich dann heraus, dass die Impfbereitschaft keineswegs eindeutig mit Migrationshintergrund und niedrigem Einkommen zusammenhängt. Unbelehrbare Impfskepsis in ideologisierter Form ist beispielsweise besonders im Bildungsbürgertum verbreitet, in einigen Gruppen von Migranten und Armen dagegen kaum - Differenzierung tut not! Aber das wirklich Problematische (und Exemplarische) an diesem Radiobeitrag ist die verkürzte Fragestellung.

Bekanntlich sieht für einen Menschen mit einem Hammer alles wie ein Nagel aus, und für die Hammer-Verkäufer existieren überhaupt nur nagelförmige Probleme. So bestimmt sich auch in diesem Fall das Problem entsprechend der vermeintlichen Lösung: impfen, impfen, impfen! Um die Leute dazu zu bringen, sich immunisieren zu lassen, müssen wir sie allerdings erst einmal davon überzeugen, dass dies richtig und wichtig ist.

Daher dreht sich der Beitrag um die Frage der richtigen Kommunikation: Wie machen wir den Proleten klar, dass Impfungen im allseitigen und gleichzeitig im eigenen Interesse sind - in einfacher Sprache, mit Angstsignalen oder Appellen an ihre Solidaritätsbereitschaft? Die Diskussionsteilnehmer betonen, man müsse „auf Augenhöhe miteinander reden“, „zielgruppenspezifisch“, authentisch, „die Leute abholen“, wo sie sich befinden. Das ganze Programm eben. Aber scheiternde Impfkampagnen sind nicht nur ein Kommunikationsproblem. Dafür gibt es tief verwurzelte soziale Ursachen.

Nebenbei: die Fixierung auf Kommunikation ist Ausdruck und Folge der neoliberalen Hegemonie, wegen der konkrete soziale Veränderungen unvorstellbar sind, im Gegensatz zu nett gemeinten Sprachregelungen. Das greift immer weiter um sich und hat offenbar auch die Public Health erreicht – eine deprimierende Schwundstufe der sozialmedizinischen Kritik an den Verhältnissen.

Der soziale Gradient in Bezug auf Covid-19 - der Einfluss von Einkommen und Bildung auf Morbidität und Mortalität - ist schockierend, so schockierend wie die Differenz in der Lebenserwartung von 12 Jahren zwischen den ärmsten und den reichsten Schichten. Aber SARS-CoV-2 ist eben nur ein gesundheitliches Risiko unter vielen. Für eine 30-jährige Neuköllnerin mit geringem Einkommen beispielsweise ist Covid-19 nicht, ich wiederhole: nicht das drängendste gesundheitliche Problem. Wie so oft werden bestimmte Risikofaktoren dramatisiert (zum Beispiel: keine Maske im öffentlichen Raum, Rauchen), andere und bedeutsamere Faktoren bleiben dagegen unerwähnt (Wohnverhältnisse, Luftqualität, berufliche und familiäre Belastungen). Denn die gesundheitliche Aufklärung von oben stellt die Faktoren heraus, die im Bereich des eigenen Verhaltens liegen (oder wenigstens so aufgefasst werden können), Einflüsse, die sich individualisieren lassen. Was soll die erwähnte Neuköllnerin auch unternehmen gegen ihre Feinstaubbelastung?

Wer das Prinzip „Keine Maßnahmen für uns ohne uns“ wirklich ernst nimmt, muss dagegen bei den konkreten gesundheitlichen Problemen ansetzten, statt eine Kampagne für eine spezifische Intervention zu organisieren. Das größere Risiko der Unterschichten ergibt sich schließlich nicht aus ihrer Impfskepsis (zugegeben: nicht nur deswegen), sondern aus der stärkeren Exposition (zum Beispiel weil die Unterschichtler:innen häufiger systemrelevante Berufe ausüben), einer insgesamt größeren Anfälligkeit (Schlagwort "sozialer Gradient") und geringeren Ressourcen, um sich vor einer Ansteckung zu schützen. Der geringere Zugang zur biomedizinischen Versorgung erklärt überhaupt nur einen Teil des sozialen Gradienten (und zwar ein kleinen - schaut es nach, wenn ihr mir nicht glaubt, zum Beispiel hier).

Eine Pandemie wie Covid-19 lässt sich nicht ausschließlich mit Impfungen eindämmen. Echte Verhältnisprävention wurde allerdings niemals ernsthaft erwogen, nicht einmal im Pflegebereich, wo die meisten Todesopfer zu beklagen sind. Was also bleibt übrig? Mahnungen, Warnungen und moralisierende Appelle. Wer nur einen Hammer im Werkzeugkasten liegen hat, der hämmert eben.

Die geringere Impfbereitschaft in den Unterschichten,

hat Folgen für die Ausbreitung in der ganzen Gesellschaft
betont die Moderatorin, zurecht. Während einer Epidemie wird schlagartig sichtbar, dass wir tatsächlich in einer Gesellschaft leben, miteinander zu tun haben, einander brauchen und eben auch anstecken. In klassischer Weise brachte dies der Stadtplaner William Lindley auf den Punkt, als er vor etwa 170 Jahren schrieb:
Mangel an Reinlichkeit macht die Bevölkerung um so empfänglicher für verheerende Seuchen, wie Cholera, Blattern, Fieber usw., und fördert das Verweilen und Wiederkehren derartiger Krankheiten, die erfahrungsmäßig bei einem gewissen Grade der Ausbreitung auch die Wohnungen der Wohlhabenden ergreifen.
Anders gesagt, der Gesundheitszustand in den Unterschichten wird interessant, wenn er Infektionskrankheiten entstehen und grassieren lässt, die auch die Bourgeoisie bedrohen.

Dass eine derart große Konfusion über Covid-19, die reale Gefährlichkeit des Erregers und sinnvolle Gegenmaßnahmen entstehen konnte, ist ein Ausdruck eines tiefen Misstrauens gegenüber Behörden, Staat und Wissenschaft. Dieses Misstrauen grassiert nicht nur, aber gerade auch in Unterschichten, aus nachvollziehbaren Gründen, aber mit (buchstäblich) fatalen Folgen. Ich kann die Unwilligkeit, den Impfappellen Folge zu leisten, nachvollziehen, auch wenn ich es falsch finde. Von der (arbeitenden) Unterschicht wird doch ganz selbstverständlich erwartet, dass sie die eigenen Körper verschleißt, gesundheitliche Gefahren ausblendet, sich nicht so anstellt. Nur während einer Pandemie, da soll alles auf einmal anders sein! Das ist schwer zu begreifen, für manche Menschen offenbar gar nicht, und manche erklären es sich mit unsinnigen Theorien über den Great Reset oder Impf-Kapitalisten.

Bestimmte Todesursachen werden skandalisiert und dramatisiert, andere dagegen ignoriert. Wieso sich das so verhält, lässt sich nicht ohne weiteres Nachdenken verstehen. Es hat zu tun mit dem Charakter solcher Pandemien und Epidemien. Sie kosten nicht nur Leben, sondern bedrohen Sicherheit und Ordnung und den gewohnten Gang der gesellschaftlichen Verhältnisse. In einer solchen Situation wird der Gesundheitszustand der Armen interessant, weil sie Infektionen weitertragen und Epidemien aufrechterhalten - liegt dieser Zusammenhang nicht eigentlich auf der Hand?

Dienstag, 22. Februar 2022

Fun fact # 54: Gesundheitswissen

Etwa ein Drittel der deutschen Bevölkerung nimmt einmal in der Woche Nahrungsergänzungsmittel ein. Jede sechste Person greift einmal am Tag zu solchen Präparaten. Es existiert kein Nachweis dafür, dass diese Einnahme gesundheitliche Vorteile bringt. Bei einigen Tumoren wie Magen- oder Darmkrebs wird sogar eine risikosteigernde Wirkung diskutiert.

Freitag, 11. Februar 2022

Dienstag, 25. Januar 2022

Wenn Kulturradio Angst macht

Freitag, 21. Januar 2022

Freitag, 7. Januar 2022

Lassen sich Pandemien vorhersehen?

Zumindest versuchen es immer mehr Staaten und setzen auf die epidemiologische Überwachung:
Wegen der Covid-19-Pandemie bauen viele Länder ihre Früherkennung und Prävention aus. In Amerika beispielsweise gibt es seit Kurzem ein „Nationales Zentrum für die Vorhersage und Analyse von Epidemien“. Die Rockefeller-Stiftung gründet ein Pandemic Prevention Institute, und in Großbritannien entsteht ein Zentrum namens Global Pandemic Radar.
Ein neues Radiofeature von mir beim Deutschlandradio beschäftigt sich mit der Frage, wie aussichtsreich dieser Versuch der Pandemie-Bekämpfung ist.