Samstag, 9. Juli 2022

Können Psychologen und Sozialarbeiter Polizisten ersetzen?

Städte wie Denver in den Vereinigten Staaten machen bestimmte Polizeieinsätze überflüssig. Seit zwei Jahren kommen bei bestimmten Notrufen keine bewaffneten Uniformierten mehr, sondern psychologisch geschulte Pflegekräfte. Das Programm Support Team Assisted Response (STAR) übernimmt in einigen Stadtteilen alle Fälle, bei denen "Individuen eine Krise durchleben, die mit ihrer psychischen Gesundheit, Armut, Obdachlosigkeit oder Drogenmissbrauch zu tun hat". STAR scheint durchaus erfolgreich zu sein - es ist deutlich billiger und offenbar auch effizienter als Polizeieinsätze. Es vermeidet überflüssige Konflikte und führt die Betroffenen, wenn es gut läuft, direkt den zuständigen Sozialeinrichtungen zu.

In den USA hat die massenhafte Empörung über Polizeigewalt - Stichwort Black lives matter - eine Reformdebatte angestoßen. Wofür die Polizei eigentlich zuständig ist und was sie leistet, ist mit Recht umstritten. Davon inspiriert legen die Kriminologen Tobias Singelnstein und Benjamin Derin nun eine Untersuchung über die Situation hierzulande vor. Ich habe ihr Buch für Andruck / Deutuschlandfunk besprochen und, wie üblich mit gewissen Einschränkungen, empfohlen.

Singelnstein und Derin warnen vor einer Verselbständigung der Polizei. Sie sei mächtiger geworden:

Je zentraler die innere Sicherheit in der politischen Auseinandersetzung, umso mehr wächst der Einfluss der Polizei, argumentieren die Autoren. Wenn Abgeordnete sich mit Initiativen für „Gesetz und Ordnung“ profilieren wollen, brauchen sie ein harmonisches Verhältnis zu den Sicherheitsbehörden. Außerdem liefern die Behörden die statistischen Zahlen über die Kriminalitätsentwicklung, mit denen Erfolg und Misserfolg der Amtsträger:innen gemessen wird. Kurz, die Konfrontation mit der Polizei ist politisch gefährlich.
Aber Machtgewinn ist nur die eine Seite der Medaille:
Die Kehrseite davon sei, dass immer mehr Aufgaben an die Behörde herangetragen werden. Sie soll Ordnung schaffen, Streit schlichten, Gewalt verhindern oder auch einfach nur Obdachlose und Ruhestörer vertreiben.
Etwas kurz kommt in dieser Analyse ein anderer Umstand; vielleicht, weil er nicht recht zu der politischen Stoßrichtung der beiden liberalen Kriminologen passt. Die Polizei hat viel ihrer Autorität eingebüßt. Die Beamten merken es an Respektlosigkeit, Widerspruch, an passivem und manchmal auch aktivem Widerstand.

Diese Konflikte tauchen in diesem Buch kaum auf, und wenn, dann nur als Folge von Kommunikationsproblemen oder einem überholten Selbstbild als Gesetzeshüter, der Gehorsam verlangt. Im polizeilichen Alltag ist aber nicht nur die handgreifliche körperliche Gewalt umstritten – der überflüssige Tritt oder Schlag –, sondern die staatliche Zwangsmaßnahme als solche, unabhängig von ihrer mehr oder weniger brutalen Form. Die linksliberale Polizei- und Justizkritik akzeptiert diesen Tatbestand höchstens widerwillig. Sie hofft nämlich, die Rechtsdurchsetzung in der bürgerlichen Gesellschaft ließe sich in einen herrschaftsfreien Diskurs auflösen. Aber Polizisten können nicht zu Sozialarbeitern in Uniform werden und Konfliktlotsen "den starken Arm der Eigentumsordnung" nicht ersetzen.