Dienstag, 31. März 2015

Zauberei? Statistik

Predictive Policing. Software, um die Kriminalitätsentwicklung vorauszusehen, verbreitet sich im Moment rasant in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Wie verändern regelmäßig automatisierte Prognosen die Polizeiarbeit? Was können diese Programme wirklich, was nicht? Darüber habe ich einen Artikel für die Wochenzeitung geschrieben.
In die automatischen Verbrechensprognosen fliessen grosse Datenmengen ein. Hunderte von Terabytes, das Fassungsvermögen Tausender handelsüblicher Festplatten, können in wenigen Minuten verarbeitet werden – Big Data für die Polizei. Der eigentliche Clou beim Predictive Policing ist aber nicht die riesige Datenmenge, die ohne technische Hilfsmittel niemals zu durchdringen wäre. Entscheidend ist, dass die Software gerade nicht nach einer fertigen Formel rechnet, sondern diese Formel selbst entwickelt.
Die Maschinen lernen und gewichten anhand von Daten aus der Vergangenheit, wie wichtig die verschiedenen Variablen sind, also beispielsweise welchen Einfluss Arbeitslosigkeit auf die Zahl von Körperverletzungen in einem Stadtgebiet hat. In einer Trainingsphase entwickelt das Programm ein Kriminalitätsmodell. Dann erhält es aktuelle Daten, wendet das Modell an und malt schliesslich rote und gelbe Vierecke auf einen Stadtplan auf dem Bildschirm – Orte, an denen es wahrscheinlich zu Straftaten kommen wird.
Das wirkt wie Zauberei, aber es handelt sich lediglich um Statistik. Zum Einsatz kommen Verfahren wie Regressionsanalysen, Kerndichteschätzungen oder Künstliche Neuronale Netze (KNN). Oft nutzen die Systeme gleich mehrere Methoden und bilden aus abweichenden Ergebnissen die Mittelwerte. Banken arbeiten schon lange mit solchen Verfahren, die einschätzen, wie wahrscheinlich es ist, dass ein Kreditnehmer in Zukunft seine Raten bezahlen wird.
Ich habe mich bemüht, allgemeinverständlich zu erklären, wie Maschinenlernen funktioniert. Es ist nämlich überhaupt nicht hilfreich (für die Bürgerrechte), wenn über das Thema "automatisierte" "digitale" "Überwachung" ahnungslos schwadroniert wird (die Anführungszeichen sollen ausdrücken, dass all diese Begriffe eigentlich genauer bestimmt werden müssten und zu Mißverständnissen einladen). So wie einst Frank Schirrmachers "Algorithmen des Grauens" steht heute die Feuilleton-Metapher Big Data für Ängste und Wünsche, die gleichermaßen unerfüllt bleiben werden.
Automatische Modellbildung wirkt ebenso faszinierend wie unheimlich, vor allem, weil sich die einzelnen Rechenschritte nicht nachvollziehen lassen. Die Metapher vom Data Mining trifft die Sache aber eigentlich ganz gut: So wie ein Goldschürfer mit einem Sieb in einem Fluss nach glänzenden Nuggets sucht, so suchen die Programme nach Personen oder Orten, die einem Raster entsprechen, die also bestimmte Merkmale aufweisen. Auch ein Goldsucher kann mit seinem Werkzeug nur solche Klumpen aus dem Fluss ziehen, die nicht durch die Löcher des Siebs passen.
Das Computerprogramm tut im Prinzip das Gleiche, wenn es Daten durchsucht – mit zwei wichtigen Unterschieden: Erstens begutachtet das Programm die Fälle nicht nur anhand eines Kriteriums (Grösse des Goldnuggets), sondern anhand beliebig vieler Kriterien (Grösse, Farbe, Form, Gewicht …). Zweitens kann der Computer sozusagen die Maschenweite seines Siebes eigenständig anpassen, wenn ihm gesagt wird, wonach er suchen soll.
Datenschürfern stehen heute fast unbegrenzt Rechenkapazität und Speicherplatz zur Verfügung. Deshalb können sie sogar noch einen Schritt weiter gehen: Sie befehlen ihren Programmen sozusagen, den ganzen Flusslauf abzusuchen und alle vorhandenen Steine, Kiesel und Goldklumpen in Gruppen einzuteilen – die Programme ordnen unstrukturierte Daten, suchen nach Ähnlichkeiten und Häufungen. Genau dazu soll nun die Software in der Lage sein, die das Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen anschaffen will - wozu eigentlich? Einbrecher fangen lässt sich mit dieser Art von Data Mining nicht; wofür also braucht die Polizei überhaupt solche technischen Möglichkeiten?
Das wären doch einmal Fragen, die zu beantworten sich lohnen würde.

Dienstag, 10. März 2015

Die Reproduktion der Qualifikation der Arbeitskraft erfolgt in den Formen der ideologischen Unterwerfung.

Louis Althusser, Ideologie und ideologische Staatsapparate, Hamburg / Berlin 1977. Seite 119.

Donnerstag, 5. März 2015

"Gesundheit lässt sich nicht verordnen"

schreibt Angela Kalisch in ihrer Besprechung von Mythos Vorbeugung in der Pharmazeutischen Zeitung:
Anhand zahlreicher Beispiele aus der Geschichte der Medizin auf der einen und der sozialgesellschaftlichen Entwicklung auf der anderen Seite leitet der Autor ab, welche Rahmenbedingungen krank machen. Demnach sind wir heute an einem Punkt angelangt, an dem die medizinische Forschung mehr oder weniger in einer Sackgasse steckt, während die Verhältnisse, unter denen gelebt und gearbeitet wird, einzig auf die wirtschaftliche Optimierung ausgerichtet sind.
Etwas ausführlicher beschäftigt sich Joseph Kuhn in Dr. Mabuse mit meinem Buch:
Prävention kann durchaus auch jenseits der gesellschaftskritischen Ebene sinnvoll sein. Dennoch macht sein Buch in hervorragender Weise klar, warum das aktuelle Präventionsgesetz, bei allen positiven Aspekten, den Kern unserer Probleme nicht trifft ... lehrreich, gut geschrieben, fachlich fundiert und politisch engagiert ...

Dienstag, 3. März 2015

An den Früchten ihrer Stilblüten sollt ihr sie erkennen

Die gesundheitliche Vorbeugung im bevölkerungspolitischen Interesse ist zutiefst antisozial und bürgerlich. Sie spaltet, vereinzelt, dressiert. Für die Gesundheit der Bevölkerung sind diese Vorbeugungsmaßnahmen in Wirklichkeit nicht nur nutzlos, sondern schädlich.

Deutsche Gesundheitspolitikern greifen dennoch beinahe täglich ins Phrasen-Reportoire und "Forderung: Mehr Verhältnisprävention" heraus. Sie plädieren für Maßnahmen, durch die soziale Unterschiede ausgeglichen werden sollen, so wie Sozialarbeiter sozusagen aus beruflichen Gründen die zunehmende Armut beklagen. Dies tut auch Thomas Spieß von der "Arbeitsgemeinschaft Gesundheit in der SPD", ein Kreis sozialdemokratischer Gesundheitspolitiker. Zunächst beklagt Spieß, wie ser sich die Lebensdauer zwischen arm und reich unterscheidet, um dann zu erklären:

Vorsorge müsse an der Lebensweise der Menschen, an ihrem Umfeld ansetzen. «Da geht es um Ernährung, Bewegung, um Strategien, das zu bewältigen, was es heißt, ein armer Mensch zu sein.»
Bei der Lebensweise ansetzen. Prävention bringt den Armen bei, wie sie ihre Armut bewältigen können. Besser, schärfer hätte ich es auch nicht sagen können.