Dienstag, 30. November 2010

Sowohl Hegel als auch Marx waren davon überzeugt, daß die Evolution menschlicher Gesellschaften kein offener Prozeß ist, sondern daß diese Evolution an ihr Ende kommen würde, wenn die Menschheit einmal ein gesellschaftliches System gefunden habe, das ihre tiefsten und grundlegendsten Bedürfnisse befriedigt.

Francis Fukuyama (1992) The End of History and the Last Man. London / New York: Free Press. P. xi.

Drohnen-Einsatz gegen Einwanderer, gefördert mit EU-Forschungsgeldern

Bereits im November hat Frontex, die - ja, was eigentlich - "die EU-Behörde"? "europäische Grenzschutzagentur"? - angekündigt, Drohnen zur Grenzkontrolle einsetzen zu wollen, und Herstellerfirmen aufgefordert, ihr entsprechende Angebote zu unterbreiten.
In the domain of land border surveillance, there is a wide spectrum of possible technical means that can be employed to provide effective surveillance including: daylight and infrared cameras, ground radars, fixed ground sensors, mobile systems, manned aircraft and satellites.
However, it is clear that Unmanned Aerial Vehicles (UAVs) could also play an important role in further enhancing border surveillance in the future, though they face a number of technical and other challenges.
Das berichtete Inter-Press Service (IPS), eine Art "NGO-Nachrichtenagentur" am 1. November. Nun bringt Neo-Opticon die Meldung, dass die großen europäischen Rüstungsfirmen ein Konsortium gebildet haben, um Aufklärungsdrohnen zu entwickeln - finanziell gefördert mit EU-Mitteln!
The OPARUS project brings together Sagem, BAE Systems, Finmeccanica, Thales, EADS, Dassault Aviation, ISDEFE, Israel Aircraft Industries and others to “elaborate an open architecture for the operation of unmanned air-to-ground wide area land and sea border surveillance platforms in Europe”. The consortium has received €11.8 million in EU funding.

Es ist den europäischen Waffenproduzenten gelungen, unter dem Markenzeichen "Sicherheitsforschung" einen neuen Markt zu erschließen - wesentlich unterstützt von EU-Institutionen wie ESRIF , dem European Security Research and Innovation Forum . IPS zitiert Frank Slijper von der niederländischen "Kampagne gegen den Waffenhandel", der die Rolle dieses Gremiums treffend zusammenfasst:
"ESRIF was the place in Europe where these supply and demand actors met in a structured formalised setting," he said. "A win-win situation really for all sides on the forum. Such initiatives are steps that enable military integration at a later point." Slijper added: "Note the number of arms companies on board of ESRIF, who post 9/11 have set up special (homeland) security divisions in their companies as that has been a new growth market for their companies."
The European Security Research and Innovation Forum (ESRIF) that ran between 2007 and 2009 brought together individuals and groups from the research community, the private business security sector, and European institutions. Frontex has been a key voice in the forum.

Montag, 29. November 2010



Sonntag, 28. November 2010

You want change? You get more of the same!

Erinnert sich jemand noch daran, wie vor drei Jahren die Aktienkurse in Ruschen kamen und die Weltwirtschaftskrise begann? Ich habe damals wie viele geglaubt, dass der "Neoliberalismus" nun ans Ende gekommen sei, dass ein neues Verwertungsmodell entstehen müsse. Von wegen! Zumindest national hat die Krise nicht das Ende des Neoliberalismus gebracht, sondern seine Eskalation: Niemals wurde in Europa mehr privatisiert und der öffentliche Sektor härter beschnitten.

In Großbritannien plant Justizminister Ken Clarke, einen Teil der Bewährungshilfe künftig durch Privatfirmen organisieren zu lassen, berichtet der Guardian.

Facing big budget cuts, Kenneth Clarke, the justice secretary, will publish a green paper on sentencing in the next fortnight which will introduce new private agencies, as opposed to probation services, to enforce tougher community orders. The plan would also include private property among the areas in which work schemes can take place.

Straftäter würden dann die Arbeitsstunden, zu denen sie verurteilt wurden, im Dienst von Privatfirmen ableisten und beispielsweise Gebäude putzen und instand halten.

Samstag, 27. November 2010



Sonntag, 21. November 2010

Die wirklich wichtigen Bomben

Eine Kollegin weist daraufhin, wie die deutschen Medien mit dem versuchten Bombenanschlag auf eine Berliner Moschee umgehen: Sie nehmen ihn kaum zur Kenntnis. Die Tat führte nur zu wenigen, ganz kurzen Meldungen - obwohl es bereits der vierte Brandanschlag auf die Sehitlik-Moschee in diesem Jahr war!

Man vergleiche das mit dem Medienecho auf die "Windhuk"-Bombenattrape, über die (laut Google News) 2147 Artikel erschienen. Hier Terror vor der Haustür, da eine Terrorwarnung. Aber natürlich, von den einen Bomben werden "wir" bedroht, von den anderen nur die Muslime.

Dienstag, 16. November 2010

Die Macht des Lügendetektors

In der FAZ von gestern steht ein Beispiel für staatliche Überwachung, das gleich zweifach typisch ist: äußerst übergriffig und letztlich gegen bewusste Täuschung nicht besonders wirksam! (In "Datenschatten" habe ich das ausführlich erläutert.)
Die jüngsten technischen Innovationen auf staatlicher Seite sind Pläne gewesen, Steuersündern mit Hilfe von Lügendetektoren auf die Spur zu kommen und Sozialhilfebetrüger durch den Einsatz von Stimmanalyse-Apparaten aufzuspüren. In einem Pilotversuch mit 23 Behörden wurden Telefonanrufe solchen Audiodetektor-Tests unterworfen, um festzustellen, ob ein höheres Niveau von Stress oder Nervosität in der Stimme von Anrufern auf die Absicht hindeuten könne, dass die Betreffenden unrechtmäßig Leistungen verlangten. Das Arbeitsministerium brach die Versuche vor einigen Wochen mit der Begründung ab, sie seien "ihr Geld nicht wert" gewesen.

Es wäre interessant zu erfahren, ob die Anrufer von diesen "Audiodetektor-Tests" eigentlich wussten und wie das die Ergebnisse beeinflusste. Scheinabr aber galt auch für diesen Lügendetektor, dass ernur die überführt, die ein schlechtes Gewissen haben und / oder an sein Funktionieren glauben. Wie in dieser wunderbaren Szene aus The Wire:



Die Macht des Lügendetektors ist der Glaube an seine Macht. Eine kurze Internetsuche führt mich zu "The Polygraph and Lie Detection" (2003):
The research on the detection of deception from demeanor includes the presumption that liars experience more stress than truth-tellers, especially in high-stakes circumstances, and that this stress shows in various channels, including in the voice. Recent meta-analytic evidence shows consistent associations of lying with vocal tension and high pitch (DePaulo et al., in press). Applied efforts to develop measures of voice stress for the detection of deception have not been very successful, however.

Donnerstag, 11. November 2010

Sicherungsverwahrung, zum allerallerletzten Mal. Ich rechne mit vielem, aber diese Entscheidung des Bundesgerichtshofs trifft mich unvorbereitet. Die Verwahrten, deren Sicherungsverwahrung angeordnet wurde, als noch eine Höchstgrenze von 10 Jahren galt und deren Haft nachträglich verlängert wurde, sollen nicht freikommen. Im Focus heißt es:
Die Oberlandesgerichte (OLG) Frankfurt am Main, Hamm, Schleswig und Karlsruhe hatten entschieden, dass Altfälle nach der zur Tatzeit bestehenden Höchstfrist von zehn Jahren Sicherungsverwahrung zu entlassen sind. Demgegenüber wollten die OLG Stuttgart, Celle und Koblenz die Sicherungsverwahrung andauern lassen, wenn die Betroffen weiterhin gefährlich sind.
Der 5. Strafsenat schloss sich dem nun an und verwies zur Begründung auf Paragraf 67d des Strafgesetzbuches, der solch eine nachträgliche Gefahrenprüfung ausdrücklich anordnet. Wenn der „gegenteilige Wille des Gesetzgebers“ so unmissverständlich zum Ausdruck käme wie in diesem Fall, sei es unzulässig, das Gesetz im Sinn des EGMR-Urteils auszulegen, entschied der Strafsenat. Nach deutscher Rechtsauffassung müssen Urteile des EGMR bei der Gesetzesauslegung nur berücksichtigt und beachtet werden. Sie haben nicht das Gewicht einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts.

Da lacht der Germane

Peter Carstens, der FAZ-Experte für die Verfolgungsbehörden, schreibt über eine Blockade des Castor-Transports:
So wurden wieder ineinander gestapelte Betonpyramiden auf die Straße geschoben. Die etwa einen Meter hohen Blöcke haben dicke Löcher, durch die Bauern ihre Arme hindurch schieben, um sich in der Mitte der Pyramiden anzuketten. (...) In diesem Jahr rückte die Polizei mit einer Hebetechnik an, die es erlaubt, die verschachtelten Pyramiden ein klein wenig anzuheben (bei allzu starkem Anlupfen brächen den Bauern die durchgesteckten Arme, und das darf nicht sein)

Mittwoch, 10. November 2010

Security trough obscurity

In meinem Buch "Datenschatten" habe ich mich auch mit der Überwachung im privaten Bereich beschäftigt: Liebhaber spionieren der Partnerin hinterher, die Ehefrau ihrem Mann und Eltern ihren Kindern. Nun bringt die ZEIT einen Artikel über die familiäre Überwachung.
Allerdings bleibt Autor Hellmuth Vensky ziemlich an der Oberfläche; eigentlich zählt er lediglich auf, was die Geräte bisher so können (was man anderswo, nicht nur bei mir bereits nachlesen konnte). Richtig, manche Eltern lassen ihren Kindern keinen Freiraum, schenken ihnen kein Vertrauen - aber warum? Und welche Rolle spielt die Technik in der Eltern-Kind-Beziehung? In "Datenschatten" heißt es:
Die Überwacher sind nicht die autoritären Eltern von einst. Wie bei der Facebook-Schnüffelei ist an solchen Angeboten attraktiv, dass sie nicht bemerkt wird. (...) Paradoxerweise soll die Überwachungsmaßnahme das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern entlasten. Statt die Kinder zur Rede zu stellen und Streit zu provozieren, "können Sie mittels Track Your Kid Stück für Stück Ihrem Kind Vertrauen schenken, welches es auch verdient – denn Sie wissen, dass Ihr Kind sich in einer sicheren Umgebung aufhält."
Müssen oder wollen Eltern dann allerdings eingreifen, fliegt der Schwindel auf – oder sie müssen zu weiteren Lügen greifen. Moralisch mag man Tracking anrüchig finden, pädagogisch ist es verheerend: Es vermittelt Kindern und Jugendlichen, dass ihre Eltern ihnen nicht vertrauen und nicht glauben. Gleichzeitig zeigen sich die Überwacher als schwach. Gerade weil sie selbst nicht daran glauben, dass ihre Regeln befolgt werden, greifen sie zur Dauerkontrolle.

Nebenbei erwähnt allerdings Vensky ein Phänomen, das ich für ganz wesentlich halte: wirksame Überwachung muss sich verbergen.
Das Fraunhofer-Institut für Zuverlässigkeit und Mikrointegration IZM versucht dagegen, den Nachwuchs zu überlisten: mit dem Kidfinder. Der passt nämlich in die Slots von gängigen tragbaren Spielekonsolen, ohne die eh kein Kind das Haus verlässt. Sowohl über das Mobilfunk-Netz GSM als auch über die Satellitennavigation GPS bestimmt das Ding seine Position und teilt sie den Eltern auf Anforderung per SMS mit. Handelsübliche Kartensoftware verwandelt die Koordinaten dann in ein Kreuzchen auf dem Stadtplan.

Darf man sich eigentlich selbst zitieren? Ich tu's einfach:
Die Methoden der Marktforscher, Detektive, Polizisten und Agenten, letztlich aller Überwacher beruhen auf Täuschung und Geheimhaltung. Sie müssen verdeckte Ermittler sein. Überwachung, die den Überwachten keine Regeln vorschreiben kann, muss täuschen und sich verstecken. Sie muss verschleiern, wie sie funktioniert.

Es wird nicht lange dauern, bis aufgeweckte Kinder verstehen, wie die technisierte Überwachung von Mama und Papa funktioniert. Dann werden sie ihre Spielekonsole der Freundin mit nach Hause geben, wenn sie in den Club wollen.

Dienstag, 9. November 2010

Biosozialpolitik. Ich komme immer mehr zu der Überzeugung, dass das Verschmelzen von Armutsverwaltung und Bildungs- und Gesundheitspolitik nichts anderers ist als eine Wiederkehr der Sozialpolitik der Lebensstile. So wie in der "Armenpflege" um 1900 kommunale Aufseher kontrollierten, ob nicht ein Familienmitglied die gewährte Unterstützung vertrank oder sich auf eine andere Art als unwürdig zeigte, so müssen die Bedürftigen von heute jeden Aspekt ihrer Lebensführung offenlegen und rechtfertigen.

Gemeinsam ist dieser Form der Armenpflege, dass sie rein "angebotsseitig" ausgerichtet ist: Die Erwerbslosigkeit ist Folge von Defiziten der Personen, und diese Mängel werden mit der Zeit (und mit Voranschreiten der Krise) immer allgemeiner definiert, bis sie schließlich in einer Unlust oder Antriebslosigkeit bestehen sollen. "Die wollen einfach nicht richtig!" Es gibt demnach schuldig und unschuldig Bedürftige.

Was ist also das Neue? Gibt es überhaupt irgendetwas Neues. einen "Fortschritt"? Vielleicht, wie umfassend heute die pädagogische Aufgabe des Staates definiert wird. Er soll - biosozialpolisch - die Defizite in den Einstellungen bekämpfen. Zugriff auf die Bevölkerung hat er über die Schulen und Kindergärten.
Der britische Politiker Frank Field, am äußersten rechten Rand der Labour Party, schlägt jetzt vor, in der Schule "Kindererziehung" zu unterrichten (nachzulesen im Guardian).
The coalition's poverty adviser, Frank Field, will call for all children to be given parenting classes at school when he presents a government-commissioned review into poverty to the prime minister later this year. The theme of Field's review is "how to prevent poor children becoming poor adults". He recommends a move away from a mainly financial approach to tackling child poverty, favoured by the last government, to a strategy that focuses on parenting, and on the early childhood years, up to the age of five.

Mittwoch, 3. November 2010




Dienstag, 2. November 2010

Eigentlich habe ich von diesem deprimierenden Thema mehr als genug. Aber, aus gegebenem Anlass - Sicherungsverwahrung, zum allerletzten:

Das von der Regierung geplante "Therapie-Unterbringungsgesetz" soll nächsten Februar in Kraft treten. Viele Fachleute bezweifeln, daß auf dieser juristischen Grundlage die sogenannten "Altfälle" "weggesperrt" werden können. Unabhängig davon finde ich bedenklich, daß nach diesem Gesetz zur Gefahrenabwehr (worauf kürzlich der Republikanische Anwaltsverein RAV hingewiesen hat)

eine ziemlich wolkig definierte psychische Störung ausreichen soll, um Menschen auf unbestimmte Zeit und nach dem Gutdünken von Richtern und Gutachtern einzusperren.


Nicht bedenklich findet das offenbar die Kriminologin Monika Frommel (Interview in der taz). Ein kurzer Auszug:
Verstößt das nicht gegen die Europäische Menschenrechtskonvention, wenn das Straßburger Urteil damit einfach ausgehebelt wird?
Nein, denn die Konvention lässt eine Freiheitsentziehung bei "psychisch Kranken" ausdrücklich zu.

Die Sicherungsverwahrten sind aber nicht "psychisch krank"…
Aus Sicht der Konvention genügt eine psychische Störung, etwa eine dissoziale Persönlichkeitsstörung, mit abnormer Aggressivität und fehlender Empathie für die Opfer. Auch der Straßburger Gerichtshof hat das schon bestätigt.

Wie viele Sicherungsverwahrte haben wohl eine psychische Störung?

Fast jeder.

Oh ja, fast jeder, denn "dissoziale Persönlichkeitsstörung" ist die häufigste Diagnose bei Gefängnisinsassen überhaupt, keineswegs nur bei den Sicherungsverwahrten!

Langsam entdecken auch linke gefängniskritische Gruppen das Thema. Das "Projekt Baulücken" bringt das Beispiel von einem Tankstellenräuber:
für einen mann, dem bislang lediglich ein tankstellenüberfall am 16. februar 2010 nachgewiesen werden konnte, hat die staatsanwaltschaft im august 2010 eine haftstrafe von achteinhalb jahren und anschließende sicherungsverwahrung beantragt. der staatsanwalt betonte, dass laut dem psychiatrischen gutachten bei dem angeklagten ein hohes rückfallrisiko bestehe und somit weitere straftaten zu erwarten seien. der mann stelle damit eine gefahr für die allgemeinheit dar, die eine sicherungsverwahrung erforderlich mache.

Ich kann dieses Beispiel nicht nachprüfen. Aber es illustriert, in welche Richtung die "Reform" der SV geht: "rückfallgefährdet" steht für "krank" steht für "gefährlich" ...