Dienstag, 22. Dezember 2015

Freund oder Feind?

Wer das souverän beantworten kann, hat wohl Carl Schmitt gelesen.

Montag, 21. Dezember 2015

Die denkenden Maschinen kommen!

Die Singularität steht vor der Tür. Also fürchtet euch, Sterbliche, ihr minderwertige wetware - wer braucht euch noch, wenn die künstliche Intelligenz die eure wolkenkratzerhoch überragt?

Sonntag, 20. Dezember 2015

Hitler hatte nur einen Hoden, Tatsache. Muss die Geschichte des deutschen Faschismus jetzt neu geschrieben werden? Wäre der Völkermord vermeidbar gewesen? So ganz verstehe ich die Aufregung über diese Nachricht nicht, der Volksmund hat's doch schon damals gewusst!

Dienstag, 15. Dezember 2015

Politische Rhetorik in der Postdemokratie

Gestern brachte das Magazin Andruck / Deutschlandfunk meine Besprechung von Dushans Wegners Talking Points - Die Sprache der Macht.
Für den Autor ist politische Rhetorik wesentlich performativ. Sie ist ein Sprechhandeln, dessen eigentlicher Sinn nicht im referierten Inhalt liegt. Sie zielt vielmehr auf bestimmte Effekte – zum Beispiel auf den "Effekt Kompetenz". Im Prinzip funktioniert die Meinungssteuerung denkbar einfach: Politiker ermitteln Werthaltungen in der Bevölkerung, um diese dann möglichst glaubhaft zu verkörpern.

Montag, 14. Dezember 2015

Failed City, Failing Journalism

Okay, es stimmt: Berlin kann nicht Flughafen.

Berlin kann nicht Pässe verlängern.

Berlin kann auch nicht Umweltschutz und Gesundheitsschutz.

Berlin kann schon gar nicht Wohnungsbau.

Aber Berlin kann dafür humanitäre Katastrophe auf Sparflamme und – das macht es noch viel, viel schlimmer! – als politische Begleitmusik beruhigende Gemeinplätze äußern. Zustände wie die um das Landesamt für Gesundheit und Soziales machen unabweisbar, wie kaputt diese Stadt und ihre Verwaltung sind.

Insofern hat die Spiegel-Redakteurin Anna Reimann irgendwie recht: Bei dem Gemeinwesen, in dem zu leben ich das zweifelhafte Vergnügen habe, handelt es sich um eine scheiternde Stadt.

Es ist ja nicht nur das Lageso, es sind so viele kleine und große Dinge, die in dieser Stadt nicht funktionieren. Schulen sind marode. Um Geld zu sparen, werden Eltern zum Putzdienst in die Klassenräume beordert. Mehrere Schulen müssen sich einen Hausmeister teilen. Schrott liegt wochenlang auf der Straße herum. Bei den Bürgerämtern ist die Verwaltung im Grunde zusammengebrochen. Dort zeitnah einen Termin zu bekommen, zum Beispiel um einen neuen Pass zu beantragen, ist de facto unmöglich.
Ich begrüße, dass sich das andauernde Versagen der Berliner Verwaltung langsam herumspricht. Aber leider wird diese Debatte nur im Kreis herum führen. Erstens, weil schon die Fragestellung sozusagen kreisförmig ist. Ist „Berlin als Stadt gescheitert“? Diese Frage können wir nur beantworten, wenn wir wissen, was eine funktionierende Stadt ausmacht. Die kleinen Berge mit kaputten Fernsehern vor meiner Haustür stören mich nicht. Berlin scheitert aber in gewisser Weise für jene Bewohner, die ihr Kind nicht auf eine private Schule schicken können oder wollen, die morgens mit der S-Bahn zur Arbeit müssen, die im Krankheitsfall nicht als Privatpatient behandelt werden und sich in die lebensgefährlichen Krankenhäuser begeben müssen – kurz, diejenigen unter uns, die auf solche öffentlichen Infrastrukturen angewiesen sind. Mein alltäglicher Frust (oder auch der von der Spiegel-Kollegin) kann jedenfalls nicht das Kriterium sein, um Berlin für gescheitert zu erklären.

Wer dumm fragt, kriegt selten eine schlaue Antwort. Woran liegt die schlimme und sich verschlimmernde Lage der Hauptstadt eigentlich? Der Spiegel hat zweitens den engen Rahmen der Debatte schon vorgeben: Die Sparpolitik in den letzten Dekaden ist nicht schuld daran:

Im öffentlichen Dienst wurden in den vergangenen Jahrzehnten massiv Stellen abgebaut, viele Mitarbeiter sind frustriert und überlastet. Aber es liegt nicht nur daran: Andere Städte haben ähnliche Personalschlüssel, und dort klappt es besser.
Interessant ist das Wörtchen „ähnlich“. Dieser Ausdruck teleportiert uns Journalisten mühelos auf die sichere Seite, weil „ähnlich“ ähnlich wie „ungefähr“ funktioniert: Irgendwie ähneln werden sich die Zahlen bestimmt. Da muss die Autorin gar nicht nachschauen, ob stimmt oder nicht, was sie behauptet.

Tatsächlich liegt der Durchschnitt im öffentlichen Dienst in allen Bundesländer zwischen 26 und 35 Mitarbeitern auf je tausend Einwohner. Nur hat es diese Verwaltung in Berlin mit einer sehr verschiedenen Situation zu tun als die in Stuttgart-Eschweiler beispielsweise. Die Leute verwalten nämlich einen bettelarmen Stadtstaat. Um nur ein Beispiel herauszugreifen, in Berlin wächst jedes vierte Kind in einem Hartz 4-Haushalt auf.

Zwischen 2001 und 2013 wurden in Berlin 30 000 Stellen im öffentlichen Dienst abgebaut. Auch deshalb liegt die Zahl der dauerhaft krankgeschriebenen Mitarbeiter in vielen Behörden und Schulen bei 20 Prozent! Dieser Krankenstand ist höher als in jedem anderen Bundesland. Gleichzeitig ziehen jedes Jahr etwa 50 000 Menschen nach Berlin, die Flüchtlinge nicht mitgezählt. Der brutalen und rücksichtslose Sparkurs und die gleichzeitigen Privatisierungen dezimierte in erster Linie die Personalmenge, aber ebenso die handfeste Seite der Infrastruktur, also Straßen, Schwimmbäder, Parks, Schulen, Sozialwohnungen, Kinderheime. Nebenbei bemerkt, die rosarote Landesregierung hat den größten Beitrag dazu geleistet.

All das kommt in dieser Debatte nicht vor. So wird mal wieder über Mentalität und Identitäten gestritten, über Geschmacksurteile, über Innovation und Worthülsen in Hülle und Fülle. Das deutsche Feuilleton kann Kultur und sonst nichts, will auch sonst nichts. Aber wer nur Kultur kann, kann nicht einmal Feuilleton.

Donnerstag, 10. Dezember 2015

Wolfgang Schäuble hält sich vornehm zurück

Der Finanzminister weiß, wie man sich auf dem diplomatischen Parkett bewegt. Weil aber der Rest Europas nur noch widerwillig macht, was die Deutschen wollen, schleicht sich in jüngster Zeit öfter ein gefährliches Zischen in seine Rede. Gerade wieder, weil die griechische Regierung lieber auf die "Hilfe" des Internationalen Währungsfonds verzichten würde, um die Staatsschulden zu bedienen.
Solche Aussagen von Tsipras seien "nicht im griechischen Interesse".
Die Deutschen wollen den IWF unbedingt dabei haben, schon damit sie auf ihn und seine unnachgiebig Haltung verweisen können, wenn Griechenland (demnächst?) die Zinsen und Raten nicht bezahlen kann oder gar gegen die Sparauflagen der Troika verstößt. Angesichts der Halsstarrigkeit von Alexis Tsipras & Co. wird Schäuble so deutlich wie möglich:
Der Krug sollte nicht so lange zum Brunnen gehen, bis er bricht. Das ist für den Krug nicht günstig.

Mittwoch, 9. Dezember 2015

Schlägt denn nicht auch hinter dieser zerfurchten Fassade ein warmes Herz? Ein Herz, das sich nach Liebe sehnt? Und nach einem Amoklauf auf Raten und Völkermord?

Klingt das blöd? Es geht noch blöder, bei web.de nämlich:

Außenseiterin, Neonazi - gar Mörderin? Wer oder was die 40-Jährige Beate Zschäpe aus Jena wirklich ist, darüber lässt sich bislang nur spekulieren.

Freitag, 13. November 2015

Freitag, 6. November 2015

Ein großer Vorteil, den wir aus der Maschine ziehen können, ergibt sich daraus, daß sie der Unaufmerksamkeit, Trägheit und Unehrlichkeit der Menschen Einhalt gebietet.

Charles Babbage (1963 / 1832) On the Economy of Machinery and Manufacturers. New York. Seite 54.

Freitag, 23. Oktober 2015

Fun fact # 23: Deutsches Jobwunder

Der deutsche Staat gibt immer mehr Geld für die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung aus. In den vergangenen neun Jahren seit 2005 haben sich die Nettoausgaben annähernd verdoppelt, von netto 2 799 645 Euro auf zuletzt 5 459 261 Euro.

Mittwoch, 21. Oktober 2015

Ein weiterer Grund, web.de zu lieben: Die Kräfte des Imperiums schützen uns vor den Ausländerfeinden!

Donnerstag, 15. Oktober 2015

Fun fact # 22: Internationale Diplomatie

Der saudische Botschafter Faisal bin Hassan Trad ist Chef des Gremiums, das Experten für den Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen bestimmt.

Freitag, 9. Oktober 2015

Mittwoch, 7. Oktober 2015

Schleppende Anpasssung an den unvermeidlichen Klimawandel

Gestern brachte der Deutschlandfunk einen neuen Beitrag von mir über Klimaanpassung in Deutschland, mit dem etwas vollmundigen Titel "Warum Deutschland die Klimaanpassung an den Klimawandel verschläft".

Die kurze Antwort auf diese Frage lautet: Weil das Kapital in Deutschland die Klimakrise noch nicht am eigenen Leib verspürt. Über die lange Antwort sollte jemand ein Buch schreiben (aber ich werde nicht derjenige sein).

Donnerstag, 24. September 2015

Der Trend geht zum Health Tracking - oder doch nicht?

Mit Smartphones können wir bekanntlich einige unsere Körperfunktionen kontinuierlich überwachen. Aber wer macht das eigentlich und warum? Technology Review interviewte kürzlich einen Vertreter des Versicherungskonzerns Generali, der "gesundheitsbewussten Kunden" besondere Tarife anbietet.
Wir motivieren Kunden, ein gesünderes Leben zu führen, indem sie Bonuspunkte für Vorsorge, Fitnessaktivitäten oder Ernährung bekommen. Einige Basisdaten können die Kunden über eine App selbst eingeben: Alter, Größe, Gewicht et cetera. Darüber hinaus können sie etwa entscheiden: Ich erlaube meinem Fitnessstudio, Generali Vitality mitzuteilen, wie oft ich beim Training war. Oder einer bestimmten Supermarktkette, welche Art von Produkten ich gekauft habe. Dann werden die Daten automatisch über eine elektronische Schnittstelle an die rechtlich getrennte Generali Vitality-Gesellschaft übermittelt.
Ist es schon so weit? Wie nutzen Krankenversicherungen diese technischen Möglichkeiten wirklich? Bei Publik Forum habe ich einen Überblick über die tatsächliche Praxis der deutschen Krankenkassen veröffentlicht. (Achtung, Paywall ...)

Montag, 21. September 2015

Mythen der Prävention revisited

Heute kam in der Sendung "Zeitfragen" beim Deutschlandradio Kultur mein Feature über Mythen und Halbwahrheiten der gesundheitlichen Prävention. Ich versuche einerseits ein realistisches Bild der Möglichkeiten von Vorbeugung zu zeichnen, andererseits die Frage zu beantworten, aus welchen Quellen sich der Glaube an die Macht der Vorbeugung speist.

Die medizinisch fundierte Bevölkerungspolitik bringt Bürger und Obrigkeit in ein besonderes Verhältnis, bei dem es sich nicht um bloßes Unterwerfungsverhältnis handelt, auch wenn Zwang immer zu ihm gehört. Insofern geht es in dem Stück auch die Frage, wie "liberal" der Neoliberalismus eigentlich ist, oder, wie ich es nenne, den Charakter der gegenwärtigen Bevölkerungspolitik.

Soviel ist klar: Der Kern des Präventionsglaubens ist ein Begriff, der uns unmittelbar einleuchtet, der aber immer zwiespältiger wird, je genauer wir ihn betrachten: Eigenverantwortung. Eng verbunden damit ist der zweite Schlüsselbegriff der Prävention: Anreiz. Die gesundheitliche Vorbeugung scheut nämlich das Verbot und die Strafe, sie entsprächen ja nicht dem Umgang mit einem mündigen, eigenverantwortlichen Bürger. Angeblich nötigt sie niemanden, sie "empfiehlt" lediglich, "bestärkt", "unterstützt" oder "macht Angebote".

Wer trägt die Verantwortung für eine spätere Erkrankung – der Staat? Die Allgemeinheit? Das Individuum? Im neuen Präventionsgesetz heißt es dazu sehr grundsätzlich: "Jeder Einzelne trägt die Verantwortung für die Chancen und Risiken seines Lebens. Diese Eigenverantwortung gilt es zu stärken."

Laut dem ehemaligen Gesundheitsminister Daniel Bahr muss der Einzelne sogar "tun, was er kann", um sich gesund zu erhalten. In der Bundestagsdebatte zum Präventionsgesetz im Jahr 2013 sagte er: "Im Gesundheitswesen gehören Solidarität und Eigenverantwortung untrennbar zusammen, denn die Solidargemeinschaft funktioniert nur, wenn sie sich auch darauf verlassen kann, dass der Einzelne in Eigenverantwortung für seine Gesundheit tut, was er für seine Gesundheit tun kann. "Mir geht es dabei darum, dass ich nicht obrigkeitsstaatlich mit dem Zeigefinger den Menschen vorschreiben möchte als Gesundheitsminister, was sie zu tun haben, sondern wir wollen ihnen Anreize setzen, dass sich gesundheitsbewusstes Verhalten für sie unmittelbar lohnt."

Erst wenn der Einzelne dieser Mindestanforderung genügt, kann er auf Unterstützung und Hilfe hoffen. Wer aber eigenverantwortlich handelt, soll dafür entschädigt werden. Sich gesund zu verhalten soll sich also lohnen, finanziell lohnen. Das neue deutsche Präventionsgesetz beispielsweise sieht vor, dass Versicherte einen Teil ihrer Beiträge zurückerhalten, wenn sie Gesundheitskurse besuchen oder sportliche Aktivitäten nachweisen können. So versucht die präventive Gesundheitspolitik, das vermutlich Nützliche und das moralisch Richtige zur Übereinstimmung zu bringen.

Ich musste einiges kürzen oder nur anreißen. In meinem Buch "Mythos Vorbeugung" finden sich mehr Argumente und Fakten, als in dem Feature Platz hatten.

Mittwoch, 16. September 2015

Kriegslieder

Schon vor einiger Zeit brachte der Deutschlandfunk meine Besprechung von "Music Wars", einer Geschichte der Musik im Zweiten Weltkrieg.
Klassische Konzerte inmitten von Trümmern, Tod und Zerstörung standen symbolisch für ungebrochenen Kampfeswillen – und für die eigene Identität als Kulturnation, die man dem Gegner absprach. Alle Kriegsparteien reklamierten schließlich für sich, die Zivilisation gegen die Barbarei zu verteidigen.

Donnerstag, 27. August 2015

Montag, 27. Juli 2015

Nicht widerlegbarer Verdacht

Als die deutschen Medien Krieg gegen die Regierung Tsipras führten, betraf ein Scharmützel den Einfluss der Spieltheorie auf die Verhandlungen zwischen Griechenland und seinen Gläubigern. Der Wirtschaftswissenschaftler und ehemalige Finanzminister Yanis Varoufakis hat bekanntlich ein Lehrbuch zum Thema verfasst. Varoufakis selbst schrieb dazu schon vor längerem in der New York Times:
Game theorists analyze negotiations as if they were split-a-pie games involving selfish players. Because I spent many years during my previous life as an academic researching game theory, some commentators rushed to presume that as Greece’s new finance minister I was busily devising bluffs, stratagems and outside options, struggling to improve upon a weak hand.
Nothing could be further from the truth.
Im folgenden erläuterte Varoufakis dann ausführlich, warum seiner Ansicht nach spieltheoretische Überlegungen nicht für den politischen und wirtschaftlichen Konflikt taugen. Diese Haltung ist nicht so ungewöhnlich: Viele Spieltheoretiker – meiner Meinung nach die vernünftigsten und schlausten – stufen die Aussagekraft dieser Theorie weit zurück. Die kann hilfreich sein, heißt es dann oft, oder, noch bescheidener, sie sei ein wirksamer Denksport.

Aber kaum ein deutscher Kommentator nahm die Distanzierung von Varoufakis zur Kenntnis oder wenigstens ernst. Sie fuhren fort, die griechische Verhandlungsführung mit Begriffen wie "Pokern", "Zocken" oder "Glücksspiel" zu belegen.

Das hat wohl auch damit zu tun, dass kaum einer von ihnen weiß, was Spieltheorie bedeutet. Der Begriff wird üblicherweise missverstanden. Mit Poker, Mensch ärger dich nicht oder Monopoly hat sie nichts zu tun. Eigentlich ist sie sogar weniger eine Theorie als vielmehr eine Methode, eine modellhafte Darstellungsweise, die Übersicht im Gewirr der Interessen und Handlungsoptionen bringen soll. Zu diesem Zweck trifft sie aber einige Annahmen, die wirklichkeitsfremd sind, sobald es um komplexere Gegenstände geht wie beispielsweise die sich verschärfenden Widersprüche in der Euro-Zone.

- Spieltheorie geht davon aus, dass sich die Interessen der Kontrahenten auf einen Nenner bringen lassen, den sie nebulös mit "Nutzen" beschreibt.

- Sie geht davon aus, dass die Kontrahenten rational handeln, worunter die weitestgehende Steigerung des Nutzens verstanden wird.

- Sie geht davon aus, dass die Kontrahenten wissen, was sie und ihre Gegner tun können.

- Sie geht davon aus, dass ihre Ziele sich nicht durch die Auseinandersetzung verändern.

Es ist bereits fraglich, wie viel es überhaupt analytisch bringt, den Konflikt als Spiel zwischen "Griechenland" und "den Institutionen" zu modellieren. Während der quälend langen Verhandlungen wurden die Verwerfungen und Gegensätze innerhalb der Troika und zwischen den europäischen Mächten immer deutlicher. Das war kein Tauziehen (das naturgemäß zwischen zwei Seiten entschieden wird), sondern ein Kesseltreiben, bei dem aus vielen Richtungen geschossen wird. Querschläger eingeschlossen. Die griechische Gesellschaft ist ebenso wenig ein einheitlicher Spieler, was die Schwankungen der Regierungsstrategie erklären mag.

Der deutsche Mikroökonom Alex Ockenfels, Experte für Verhaltensökonomik, meldet sich nun in der Wirtschaftswoche zu Wort und will erklären, was Varoufakis und Tsipras spieltheoretisch falsch gemacht hätten. Mit ihren Bluffs, Drohungen und Täuschungen hätten sie ihre Glaubwürdigkeit verspielt. Ockenfels' Fazit:

Ein kleines bisschen Expertise kann eben manchmal mehr schaden als nutzen.
Will das sagen, dass Varoufakis die Theorie einfach nicht begriffen hat? Hätte er psychologisch geschickter vorgehen sollen, wie es die Behavioural Economics nahelegen? Die Vertreter von Syriza werden den Makel einfach nicht los, ihnen sei alles, jede Täuschung zuzutrauen. In der ziemlich paranoiden Logik der Spieltheorie lässt sich dieser Verdacht einfach nicht entkräften.

Sonntag, 12. Juli 2015

Wolfgang Schäuble ist auf seine Würde bedacht

So sehr, dass er sich lächerlich macht.
Such was the "tough, even violent" atmosphere, in the words of one participant, that after an overnight break the German and French finance chiefs, Wolfgang Schaeuble and Michel Sapin, sat down to clear the air between them before resuming on Sunday. Schaeuble also crossed swords with ECB governor Mario Draghi, snapping at the Italian central banker "I'm not stupid!"

"It was crazy, a kindergarten," said a source describing the overall course of nine hours of talks on Saturday among weary ministers attending their sixth emergency Eurogroup in three weeks. "Bad emotions have completely taken over." ... The European Central Bank's Draghi seemed "the strongest European" in the room, most opposed to the risky experiment of cutting Greece loose and braving Schaeuble's ire by interrupting him during a discussion on Athens' debt burden.

Berichtete Reuters, darunter ein interessantes Detail am Rand:
Unlike many of a dozen previous meetings they have had since Greeks despairing of creditor-imposed austerity elected leftist Prime Minister Alexis Tsipras in January, some of the sharpest exchanges were not with their Greek colleague but each other.

Mittwoch, 8. Juli 2015

Extend and pretend, delay and pray

Heute Mittag hat der britische Finanzminister George Osborne den Haushaltsplan für die nächsten fünf Jahre vorgestellt. Er sieht massive Kürzungen im sozialen Bereich und bei den Kommunen vor. So will die Regierung die Trendwende bei der Staatsverschuldung schaffen.

Ich habe das zum Anlass genommen, bei Telepolis über Austerität, Neoliberalismus und den Staat nachzudenken. Denn das britische Beispiel ist durchaus lehrreich:

Austerität bedeutet "Sozialabbau", aber nicht Schuldenabbau. Seit dem Zweiten Weltkrieg steigt langfristig die Staatsverschuldung, mal schneller, mal langsamer, über die Konjunkturzyklen hinweg. Die Phase des "Neoliberalismus" ab Anfang der 1980er Jahre unterscheidet sich natürlich vom vorangegangen "Keynesianismus", aber nicht hinsichtlich des Schuldenmachens. Alle britischen Regierungen seit und einschließlich der von Margaret Thatcher haben mit Defizitfinanzierung in den Konjunkturkreislauf eingegriffen.
Etwas zugespitzt ließe sich die Entwicklung seit 2008 mit dem Begriff "Verstaatlichung der Finanzbranche" oder auch "Souveränität der Finanzmärkte" beschreiben. Verhielten die Zentralbanken anders, gäbe es keine steigende Börsenkurse und Beschäftigungsquoten, sondern Rezession. Es ist schon merkwürdig: Niemals hing das Wohl und Wehe der Nationalökonomie so sehr am Tropf des Staates – und niemals hatte er einen so schlechten Leumund. Der Versuch, mit brachialer Gewalt die Staatsquote zu senken (Gewalt durchaus auch im handgreiflichen Sinn), hat etwas Verzweifeltes, vielleicht ist er auch einfach die notwendige Ergänzung zu dieser tendentiellen Verstaatlichung.
Lässt sich unsere Wirtschaftsform, ein fortgeschrittener Kapitalismus ohne staatliche Verschuldung aufrechterhalten? Auch auf der nationalen und internationalen Ebene gibt es eine Art "extend and pretend", Fristen verlängern, aufschieben und beten. Die Selbst-Täuschung besteht darin, eine offensichtlich säkulare Entwicklung wie eine vorübergehende Konjunkturschwankung zu behandeln und die historische Zäsur der neuen Weltwirtschaftskrise zu ignorieren.

Dienstag, 7. Juli 2015

Der Mann, den sie liebend gerne hassen

Yanis Varoufakis ist zurückgetreten. Wer wird ihn vermissen? Mit Sicherheit die Internet-Gossenpresse wie die Redaktion von United Internet. Heute hat sie es fertig gebracht, drei von etwa zehn Schlagzeilen dem ehemaligen Finanzminister zu widmen.

Montag, 6. Juli 2015

Wohnungsnot und Immobilienspekulation

Heute morgen lief bei Europa heute / Deutschlandfunk ein kurzer Bericht von mir über den englischen Wohnungsmarkt, insbesondere in London.

Sonntag, 5. Juli 2015

Donnerstag, 25. Juni 2015

"Journalistische Standards, hoher Anspruch"

Der Medienjournalist Stefan Mey hat letzte Woche in seinem Blog einige Informationen über die „unterschätzten Mail-Medien“ zusammengetragen.
27 Millionen Leute zieht es laut Zahlen der Arbeitsgemeinschaft Online Forschung pro Monat zu T-online. Das Portal erreicht damit 49% aller deutschen Internet-User*innen. Das ist deutlich mehr als das zweit platzierte Angebot Bild.de erreicht. Andere große Mail-Medien sind die Schwesterportale Web.de (14 Mio.) und Gmx (11 Mio.). 9 Mio. Nutzer*innen besuchen zudem das Angebot von Yahoo Deutschland und 7 Mio. das Microsoft-Portal MSN Deutschland, die beide etwas ähnliches machen.
Angesichts des „Contents“ - mirabile dictu -, der dort zu finden ist, ist das eine schlechte Nachricht. Betrieben wird gmx und web.de vom Unternehmen United Internet. Stefan Mey bemerkt nebenbei:
Die Aufmacher-Geschichte ist oft politisch. Zur Zeit geht es immer wieder um Griechenland, letzte Woche kam in einem “Live-Blog” etwa der konservative CDU-Europaabgeordnete Elmar Brok zu Wort, der in einem Teil der griechischen Regierung „alte Kommunisten“ erkennt, „die jetzt versuchen, den Bürgerkrieg von 1949 zu gewinnen”.
Oh ja! Es geht bei Web.de und den anderen um Griechenland big time, andauernd und gnadenlos. Die Berichterstattung in Deutschland ist ohnehin einseitig. Durch den Boulevard-Filter der Mail-Medien gedrückt ist sie unerträglich. Da wird "zugespitzt" und personalisiert, was das Zeug hält, eines aber bestimmt nicht – informiert und erklärt. Wer diese Artikel liest, ist dümmer als zuvor.

Jeden Morgen, wenn ich meine Emails anschaue, leide ich Schmerzen. Das meine ich nicht sinnbildlich – ich kriege von der Hetze wirklich Bauchschmerzen, so wie man vom Lärm eines Presslufthammer Kopfschmerzen bekommen kann.
Nun wird in dem Artikel Martin Wilhelm von United Internet zitiert, der diesen Schund anscheinend irgendwie redaktionell verantwortet. Was sagt er?

Unsere Redaktion arbeitet nach journalistischen Standards und mit hohem eigenen Anspruch.
Das allererste, was man im Werbegeschäft lernt, ist, nicht rot zu werden.

Freitag, 19. Juni 2015

Dienstag, 16. Juni 2015

Fun fact # 21: Religion

Um bei der Scientology-Kaderorganisation "Sea Org" aufgenommen zu werden, unterschreiben die neuen Mitglieder einen Vertrag "für die nächste Milliarde Jahre". Hintergrund ist die Vorstellung, sie würden wiedergeboren und kämen in ihrer nächsten Inkarnation wieder zu Scientology.

Donnerstag, 11. Juni 2015

Vorausschauende polizeiliche Überwachung und die moralische Statistik des 21. Jahrhunderts

Gestern lief bei WDR 5 mein Feature über das sogenannte Predictive Policing. Der Beitrag erklärt, wie die Technik funktioniert, ansatzweise auch, warum sie sich gegenwärtig in Deutschland verbreitet.

Wie immer ist mir wichtig, auf die prinzipiellen Grenzen automatisierter Überwachung und ihre sozialen Antriebskräfte hinzuweisen. Denn nur oberflächlich betrachtet ist die computergestützte Verbrecherjagd etwas Neues. In einer historischen Perspektive handelt es sich nur um die jüngste Etappe einer langen Entwicklung, die schon im frühen 19. Jahrhundert begann.

Mittwoch, 10. Juni 2015

Wie schön, wenn nach dem ganzen Gerede über den bevorstehenden Triumph der Künstlichen Intelligenz und lernende Roboter sich der Computer mal so richtig doof anstellt!

Freitag, 5. Juni 2015

Auf dem Boulevard regiert die Rudelmentalität. Und seit klar ist, was von der griechischen Regierung zu halten ist, gibt es keines mehr. Wenn sie redet, "wütet" sie. Wenn die Troika redet, "reicht sie die Hand".



Mittwoch, 3. Juni 2015

Montag, 1. Juni 2015

Freitag, 29. Mai 2015

Wolfgang Schäuble ist mit allen diplomatischen Wassern gewaschen

Die deutsche Regierung ist mit ihrer Haltung gegenüber Griechenland einigermaßen isoliert. Es wird sich herausstellen, wie weit die deutsche Vormacht in der Europäischen Union geht. Aber erst einmal stichelt Wolfgang Schäuble weiter, fürs heimische Publikum, aber wie immer mit dem Duktus des erfahrenen Weltpolitikers.
Wissen Sie: Ich habe früher als Innenminister mit SED-Ministern verhandelt. Sie können sich ihre Partner nicht immer aussuchen, aber Sie müssen mit ihnen arbeiten.
Varoufakis als Schalck-Golodkowski, Griechenland als die neue DDR? Wir wissen, wie das beim letzten Mal ausging.

Sonntag, 10. Mai 2015

Sometimes bad guys are lernfähig

In einem Interview berichtet der Technik-Journalist Peter Welchering über neue Entwicklungen bei den automatisierten Kriminalitätsprognosen oder, geläufiger, dem Predictive Policing. Besonders interessant ist folgende Spekulation:
Die organisierte Kriminalität hat die Inferenzbildung der Predpol-Software nachgebaut, die Softwaremethodik rekonstruiert. Und damit wussten sie, von welchen Daten und Datenhäufigkeiten Predpol welche Wahrscheinlichkeiten ableitet. Daraufhin haben sie für ein bestimmtes Wohngebiet genau diese Daten, vor allen Dingen Kommunikationsmetadaten, erzeugt, aus denen Predpol dann eine hohe Wahrscheinlichkeit für Einbrüche ableitet. Das führte dazu, dass aus anderen ruhigen Gebieten, mit wenig Kommunikationsmetadaten Kräfte abgezogen wurden. Die wurden in die Gebiete mit hohen Einbruch-Wahrscheinlichkeiten geschickt. Und dann konnten die Kriminellen in aller Ruhe Wohnungen in sogenannten ruhigen Gegenden ausräumen.
Warum überrascht mich das nicht?

Freitag, 8. Mai 2015

In der österreichischen Zeitschrift Streifzüge bespricht Maria Wölflingseder "Mythos Vorbeugung".
Der deutsche Publizist Matthias Martin Becker hat einen dieser Mythen auseinander klamüsert. Die Grundaussage seines Buches „Mythos Vorbeugung – Warum Gesundheit sich nicht verordnen lässt und Ungleichheit krank macht“: Die allseits geforderte individuelle Prävention fruchtet wenig, denn den größten Einfluss auf die Gesundheit üben die Lebensverhältnisse beziehungsweise die gesellschaftliche Ungleichheit aus.

Dienstag, 5. Mai 2015

Montag, 4. Mai 2015

Felix Austria Inscius

Letzte Woche habe ich meine erste Talkshow absolviert, na ja, jedenfalls so etwas Ähnliches wie eine Talkshow: Die Donau-Universität Krems lud zu einer Diskussion mit dem Titel „Allheilmittel Prävention?“ und lud auch mich dazu ein!

Die Frage, ob gesundheitliche Vorbeugung ein Allheilmittel sei, ist natürlich eine rhetorische. Darüber wurden wir uns auf dem Podium schnell einig. Damit erschöpfte sich die Einigkeit allerdings auch schon. Denn während die Arbeitsmedizinerin Eva Högl, der Ökonom Gottfried Haber und der Epidemiologe Gerald Gartlehner es schwierig fanden, den Leuten gesundes Verhalten nahe zu bringen, bezweifle ich den Sinn ganz grundsätzlich. Warum?

* Die vermeintlich pathogenen Bösewichte wie Bewegungsmangel und Fehlernährung werden zu Unrecht dämonisiert.

* Die unteren Klassen sind öfter und schwerer krank und sterben früher, aber nicht in erster Linie wegen ihres Lebensstils, sondern weil sie größeren Belastungen ausgesetzt sind.

* Die Kehrseite: Die oberen Klassen sind gesünder, aber das liegt nicht an ihrem Lebensstil.

In der Diskussion spielte dieser Sachverhalt leider kaum eine Rolle. Scheinbar brennt vielen Menschen zu sehr das Problem unter den Nägeln, wie wir die Leute dazu bekommen, sich gesund zu verhalten, um sich grundsätzlichen Fragen aufzuhalten. Und merkwürdig, jede dritte Gast, der sich in der Diskussion zu Wort meldete, beklagte die Zustände in Österreich. Zu träge, nicht auf der Höhe der Zeit, provinziell - das in einem Land, in dem der Unterschied in der Lebenserwartung zwischen arm und reich immerhin fast drei Jahre weniger als in der Bundesrepublik Deutschland beträgt, das also irgendetwas besser machen muss als die Piefkes!

In der neuen (übrigens sehr interessanten) Ausgabe von Gesundheit braucht Politik, der Zeitschrift des Vereins Demokratischer Ärztinnen und Ärzte, habe ich noch einmal meine Argumentation aus "Mythos Vorbeugung" zusammengefasst.

"Für einen Mann mit einem Hammer sieht alles wie ein Nagel aus!", sagt ein schönes englisches Sprichwort: Wenn die Therapie von vornherein feststeht, verengt sich auch die Diagnose. Die konventionelle epidemiologische Theorie, die die präventive Praxis anleitet, thematisiert daher ausschließlich jene „Risikofaktoren“, die angeblich „eigenverantwortlich“ bekämpft werden können. Wenn soziale und psychosoziale Belastungen überhaupt auftauchen, dann bezeichnenderweise nur als individuelle Herausforderungen, gegen die geeignete Verhaltensänderungen helfen sollen: Yoga gegen Stress, Ballaststoffe gegen Krebs, Diät gegen Diabetes ...
Sicher, der Verzicht auf Tabak, Alkohol und Völlerei kann das Leben verlängern. Aber die gesundheitliche Vorbeugung übertreibt ihren Einfluss maßlos. Dass Frauen mit leichtem Übergewicht die längste Lebenserwartung haben – ein Idealgewicht in dieser Hinsicht also gerade nicht ideal ist –, das passte so wenig ins Bild, dass es zu einem „Paradox“ erklärt wurde. Dass viel Sport nicht unbedingt viel hilft, dass gegen Schicht- und Nachtarbeit „Schlafhygiene“ kaum etwas ausrichtet, dass der Einfluss bestimmter Ernährungsweisen auf die Inzidenz chronischer Krankheiten keineswegs geklärt ist – solche wichtigen Informationen finden sich nicht in den Aufklärungsbroschüren, die in hohen Auflagen unters Volk gebracht werden, wohl „um die Patienten nicht zu verunsichern“.
Damit bringen sich die Experten um Glaubwürdigkeit und verschenken Vertrauen. Noch wichtiger und gesellschaftspolitisch bedenklicher ist aber, dass ihr Fokus auf Genussmittel als dem wesentlichen Gesundheitsproblem und Sport als Therapie der Wahl falsche Körperbilder mit vermeintlich wissenschaftlichen Weihen versieht. Denn wer den Broschüren der Kassen und staatlichen Stellen glaubt, muss ja geradezu auf die Idee kommen, ein jeder sei seiner Gesundheit eigener Schmied, er müsse sich nur „vernünftig“ verhalten und die Finger von Zigaretten und Sahnetörtchen lassen!
Die Aufgabe einer kritischen Medizin wäre dagegen, im Gespräch mit den Patienten deren Vorstellungen davon zu weiten, was gesund erhält und was krank macht; sie sollte persönliche Beziehungen, Arbeitsbedingungen und Wohnverhältnisse zur Sprache bringen. Kritische Medizin darf ihre Patienten nicht als bloße Opfer der Verhältnisse behandeln und so abermals entmündigen. Sie muss aber auch ehrlich aufzeigen, wie wenig aussichtsreich es ist, Belastungen durch „gesundes Verhalten“ auszugleichen. So würde sie so wenigstens diejenigen entlasten, die ihr Leiden als ein eigenes Versagen erleben.

Dienstag, 21. April 2015

Mit der "Investitionsinitiative" auf dem Weg zu Schattenhaushalten?

Heute hat die "Expertenkommission zur Stärkung der Investitionen" Wirtschaftsminister Gabriel ihre Vorschläge überreicht. Auch die Endfassung ist mittlerweile im Netz. Ich wiederum habe für Telepolis einen Artikel über die Hintergründe geschrieben.

Ziel der Kommission war es, Wege zu finden, wie privates Kapital in Infrastruktur-Projekte fließen kann. Dass die Straßen und öffentlichen Einrichtungen in einem beklagenswerten Zustand sind, ist allerdings bei dieser Regierungsiniative eher nebensächlich.

Mehr privates Kapital und private Beteiligung seine nötig, argumentiert Bundeswirtschaftsminister Gabriel, um die marode Infrastruktur Deutschland zu reparieren und neue Energie- und Breitbandnetze aufzubauen. Denn seit den frühen 1990er Jahren sind die Abschreibungen auf die staatliche Infrastruktur geringer als neue Investitionen. Das bedeutet nichts anderes, als dass der Wertverlust nicht ersetzt wird oder, wie nun immer häufiger zu hören ist, "Deutschland auf Verschleiß" oder "von der Substanz lebt". Einigermaßen plötzlich wurde "Investitionsstau", "Investitionslücke" oder "Investitionsschwäche" zum prominenten medialen Thema.
Nachdem der Verschleiß der sogenannten Daseinsvorsorge jahrzehntelang kaum beachtet wurde, häufen sich nun dramatische Warnung. Der Investitionsstau beträgt je nach Schätzung zwischen 100 und 150 Milliarden. Das bedeutet aber auch: Die "Investitionsoffensive" würde sozusagen zu "ÖPP hoch zwei" führen. Würden die Vorschläge der Kommission umgesetzt, flössen gewaltige Geldströme aus Steuermitteln und Nutzerentgelten hin zu privaten Unternehmen.
Mutet dieser Ablauf nicht bekannt an? Ob mit der "Agenda 2010" der deutsche Arbeitsmarkt umkrempelt werden sollte oder ob wegen der "demographische Katastrophe" die Alterssicherung für Kapitalmarktakteure geöffnet wurde – immer bereiteten Angstdebatten und nationale Abstiegsphantasien den Weg. Immer bestand die Gefahr, dass "wir unseren Wohlstand verspielen", wenn es so weitergeht wie bisher. Und wieder steht das Mittel bereits fest, um die vermeintlich anstehende Katastrophe abzuwehren.

En passant versuche ich in meinem Artikel auch, vereinfachenden und personalisierenden Erklärungen für dieses Regierungsvorhaben entgegenzutreten - auch wenn's in diesem Fall (angesichts der Besetzung der Kommission) wirklich schwer fällt!

Hat die Finanzbranche die Bundesregierung in die Tasche gesteckt? Sagt Jürgen Fitschen (Deutsche Bank) Sigmar Gabriel (SPD), was er zu tun hat? Nein, eine solche Sichtweise wäre zu einfach, schon weil sich die gleichen Tendenzen in anderen europäischen Ländern und auf europäischer Ebene (mit dem Juncker-Plan) zeigen. In gewisser Weise sind staatlich garantierte Renditen für die Finanzindustrie folgerichtig: Weil auch durch das spottbillige Geld der Zentralbanken bisher keine eigenständige Wachstumsdynamik entsteht, sucht das Kapital zunehmend verzweifelt nach lukrativen Anlagemöglichkeiten. Lukrativ sind aber nur Investitionen, die echte Gewinne versprechen.
"Es muss uns auch weltweit besser gelingen, die riesige, nach langfristigen Anlageformen förmlich dürstende Liquidität in Investitionen zu lenken", sagte Finanzminister Schäuble in der letzten Haushaltsdebatte, in der er stolz seine Schwarze Null präsentierte und von der Regierungsfraktion dafür mit minutenlangem Applaus bedacht wurde. Eine rigide "Haushaltskonsolidierung" schließt aber Wachstum aus, das gibt es nur auf Pump.
Catch my drift? "Verwertungskrise" statt "neoliberaler Raubzug".

Montag, 20. April 2015

Fun fact # 20: Geldkritik

Der Geldkritiker Hans Christoph Binswanger war der Doktorvater von Josef Ackermann, ehemaliger Chef der Deutschen Bank.
Der frühere DB-Volkswirt Thomas Mayer plädierte letztes Jahr dafür, die Geldmenge zu schrumpfen und die Kreditschöpfung lediglich dem Staat vorzubehalten.

"Versicherungsrettung" ante portas?

Oxymoronische Illustration von der Startseite des Bundesfinanzministeriums: Deutschland baut auf, ohne sich zu veschulden.
Morgen wird die "Expertenkommission zur Stärkung der Investitionen" Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel ihren Bericht übergeben, wie privates Kapital für die deutsche Infrastruktur fließen kann. Die ist (wie uns seit kurzem, aber nun immer häufiger erzählt wird) kaputt, marode und eine einzige Katastrophe. Aber wem würden die Vorschläge nutzen, die von der Kommission entwickelt wurden?
Für Deutschlandfunk-Hintergrund habe ich einen Beitrag zum Thema gemacht.
Der Kommissionsbericht empfiehlt nicht grundsätzlich mehr ÖPP. Aber er enthält durchaus Vorschläge, die solche Beteiligungen Privater später erleichtern könnten. Zu ihnen gehören:

Infrastrukturfonds, in denen möglichst viele Projekte gebündelt werden.
Eine solche nationale oder regionale Zusammenfassung ist im Interesse der Finanzbranche: Sie will investieren, aber ihr Risiko streuen.

Ein Bürgerfonds, der Kleinanlegern offen steht.
Infrastruktur-Volksaktionen wären geeignet, "Ängste und Vorurteile in der Bevölkerung" zu zerstreuen, wie es in einem Papier der Kommission formuliert wurde.

Eine Infrastrukturgesellschaft für Kommunen.
Sie soll Städten und Gemeinden helfen, die wirtschaftlichste Beschaffungsalternative zu finden. Auch skeptische Bürgermeister und Stadträte würden sich wohl beeindrucken lassen, wenn diese Gesellschaft zu einer ÖPP rät.
Hintergrund dieser RegierungsiInitiative ist die finanzielle Klemme, in die Versicherugnen, Pensionsfond und in gewissem Umfang auch die Banken durch die niedrigen Zinsen geraten.
Weil die Zentral banken witerhin alles tun, um die Zinsen zu drücken, suchen institutionelle Anleger immer verzweifelter nach lukrativen Investitionsmöglichkeiten. Besonders den Versicherungen macht die Zinsentwicklung zu schaffen. Auf der einen Seite fehlt Kapital. Auf der anderen Seite fehlen attraktive Möglichkeiten, Kapital anzulegen. Würden also Versicherungen und Pensionskassen in die öffentliche Infrastruktur investieren, so die Idee, wären zwei Probleme auf einmal gelöst.
Der Wunsch der Finanzbranche, der Staat möge ihr neue Anlagemöglichkeiten schaffen, ist allerdings äußerst brisant. Diese Woche fiel die jährliche Rendite zehnjähriger Staatsanleihen unter 0,1 Prozent. Das bedeutet: die Bundesrepublik kann gegenwärtig nahezu kostenlos Kredit aufnehmen, während private Anleger eine wesentlich höhere Rendite erwarten- die letztlich von den Nutzern und Steuerzahlern bezahlt wird.

Sonntag, 19. April 2015

Freitag, 17. April 2015

Wolfgang Schäuble erzählt einen Witz

Patrick Bahners - meiner Meinung nach ein FAZ-Autor mit einer eigenen Haltung - schreibt über die Diplomatie des Finanzministers.
Zum Abschluss erzählt Wolfgang Schäuble einen Witz. Genauer gesagt: Er erzählt davon, wie er einmal einen Witz erzählt hat. Er liebe es nämlich, Witze zu erzählen, und so habe er vor ein paar Monaten die Prognose gewagt, es könne sein, das Wladimir Putin eines Tages noch den Karlspreis bekommen werde, wegen seiner Verdienste um die Einigung Europas.
Lustig. Ein neuer Kalter Krieg mit Russland, ein heißer Stellvertreterkrieg auf der Krim dazu, da ist es gut, dass Schäuble die gute Laune nicht verliert. Mit dem "Humor des Finanzministers" hat es allerdings so seine Bewandtnis, bemerkt Bahners.
Ein wiederkehrendes Merkmal der freien Rede sind bei Schäuble Eruptionen einer untergründigen Heiterkeit, deren Gegenstände sich nicht einfach benennen lassen. Man weiß oft nicht, warum sich gerade jetzt ein Lächeln auf sein Gesicht schleicht oder ein Kichern in seine Stimme. Was er sich denkt, geht nicht auf in dem, was er sagt. Sein vulkanisches Ingenium lässt auf einen empfindlichen Sinn fürs Absurde und Groteske seines Metiers schließen.
Wonach klingt das? Feuilleton-Prosa, sicher. Aber, mit Verlaub, nicht auch nach Diagnose? Handelt es sich um einen politischen Realitätsverlust im klinischen Sinn? Oder, anders gefragt: Woher kommt Wolfgang Schäubles unerschüttliche Gelassenheit und Glauben, im großen und ganzen werde alles gut gehen (bei gleichzeitiger äußerster Erregbarkeit im Kleinen)?

Natürlich repräsentiert Schäuble den "diskreten" europäischen Hegemon im konkreten wie übertragenen Sinne. Deutschland / Europa als soft power ist ein Schlüsselbegriff seines politischen Selbstverständnisses, er benutzt ihn in jeder dritten Rede. Aber er repräsentiert deutsche Macht ganz anders als Kanzlerin Merkel mit ihrer sedierenden, mäandernden Rhetork, mit ihrem mütterlich-beruhigenden Gestus. Schäuble spricht apodiktischen, belehrenden Klartext: Er hat alles gesehen und erlebt und verstanden. Er weiß, das deutsche Schiff geht niemals unter, und wenn es doch einmal untergeht, dann taucht es fast unversehrt wieder auf.
Bahners schreibt:

Finanzpolitik, so mag man das verstehen, der spekulative Erwerb von Kredit, ist heute die Leitdisziplin unter den Staatskünsten. Waffen scheinen entbehrlich, weil es Bluff und Finte gibt. Schäuble selbst legt den Gedanken nahe, dass die Routine im Hinausschieben des großen Kassensturzes, die die Regierungen der Eurozone erworben haben, ein Muster des Krisenmanagements auch in der Frage von Krieg und Frieden liefert.
Das trifft etwas. Haben Merkel und Schäuble vielleicht so viel Routine darin erworben, dass sie den deutschen Kassensturz für auf ewig aufschiebbar halten?

Samstag, 11. April 2015

Dienstag, 7. April 2015

Echt wahr?

Für die neue Konkret habe ich eine kleine Glosse über Googles Versuch geschrieben, seine Suchergebnisse nicht nur auf Popularität, sondern auf Fakten zu setzen. Aber was um Himmels ist ein Fakt? Vor allem, weil eine Plattform wie Google bei jeder Gelegenheit darauf behaart, keine redaktionelle Rolle für der Öffentlichkeit zu spielen, sondern eben bloß Sucher einerseits und "gesuchten Inhalt" andererseits zusammenzubringen - und weil der Konzern menschliche Arbeitskraft natürlich nicht bezahlen will.
Automatisch ist wichtig, weil: Je vernunftbegabter die Wesen, umso größeren Wert legen sie darauf, bezahlt zu werden. Das Erfolgsrezept von Google und anderen Sozialen Medien, Plattformen und Suchmaschinen besteht aber gerade darin, alles, was kostet, gar nicht erst anzufangen. Den größten Profit im Netz macht, wer verbreitet, was andere hergestellt haben.
Facebook oder Google betonen, sie seien keine »publizistischen Einheiten«. Sie unterhalten keine Redaktionen, prüfen keine Fakten, wählen keine Nachrichten aus. Statt dessen überlassen sie es (angeblich) ihren Algorithmen, bestimmte Inhalte an bestimmte Nutzer zu vermitteln. Leider kommt dabei heraus, dass alle User Katzen lieben und an 9/11 zweifeln.

Dienstag, 31. März 2015

Zauberei? Statistik

Predictive Policing. Software, um die Kriminalitätsentwicklung vorauszusehen, verbreitet sich im Moment rasant in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Wie verändern regelmäßig automatisierte Prognosen die Polizeiarbeit? Was können diese Programme wirklich, was nicht? Darüber habe ich einen Artikel für die Wochenzeitung geschrieben.
In die automatischen Verbrechensprognosen fliessen grosse Datenmengen ein. Hunderte von Terabytes, das Fassungsvermögen Tausender handelsüblicher Festplatten, können in wenigen Minuten verarbeitet werden – Big Data für die Polizei. Der eigentliche Clou beim Predictive Policing ist aber nicht die riesige Datenmenge, die ohne technische Hilfsmittel niemals zu durchdringen wäre. Entscheidend ist, dass die Software gerade nicht nach einer fertigen Formel rechnet, sondern diese Formel selbst entwickelt.
Die Maschinen lernen und gewichten anhand von Daten aus der Vergangenheit, wie wichtig die verschiedenen Variablen sind, also beispielsweise welchen Einfluss Arbeitslosigkeit auf die Zahl von Körperverletzungen in einem Stadtgebiet hat. In einer Trainingsphase entwickelt das Programm ein Kriminalitätsmodell. Dann erhält es aktuelle Daten, wendet das Modell an und malt schliesslich rote und gelbe Vierecke auf einen Stadtplan auf dem Bildschirm – Orte, an denen es wahrscheinlich zu Straftaten kommen wird.
Das wirkt wie Zauberei, aber es handelt sich lediglich um Statistik. Zum Einsatz kommen Verfahren wie Regressionsanalysen, Kerndichteschätzungen oder Künstliche Neuronale Netze (KNN). Oft nutzen die Systeme gleich mehrere Methoden und bilden aus abweichenden Ergebnissen die Mittelwerte. Banken arbeiten schon lange mit solchen Verfahren, die einschätzen, wie wahrscheinlich es ist, dass ein Kreditnehmer in Zukunft seine Raten bezahlen wird.
Ich habe mich bemüht, allgemeinverständlich zu erklären, wie Maschinenlernen funktioniert. Es ist nämlich überhaupt nicht hilfreich (für die Bürgerrechte), wenn über das Thema "automatisierte" "digitale" "Überwachung" ahnungslos schwadroniert wird (die Anführungszeichen sollen ausdrücken, dass all diese Begriffe eigentlich genauer bestimmt werden müssten und zu Mißverständnissen einladen). So wie einst Frank Schirrmachers "Algorithmen des Grauens" steht heute die Feuilleton-Metapher Big Data für Ängste und Wünsche, die gleichermaßen unerfüllt bleiben werden.
Automatische Modellbildung wirkt ebenso faszinierend wie unheimlich, vor allem, weil sich die einzelnen Rechenschritte nicht nachvollziehen lassen. Die Metapher vom Data Mining trifft die Sache aber eigentlich ganz gut: So wie ein Goldschürfer mit einem Sieb in einem Fluss nach glänzenden Nuggets sucht, so suchen die Programme nach Personen oder Orten, die einem Raster entsprechen, die also bestimmte Merkmale aufweisen. Auch ein Goldsucher kann mit seinem Werkzeug nur solche Klumpen aus dem Fluss ziehen, die nicht durch die Löcher des Siebs passen.
Das Computerprogramm tut im Prinzip das Gleiche, wenn es Daten durchsucht – mit zwei wichtigen Unterschieden: Erstens begutachtet das Programm die Fälle nicht nur anhand eines Kriteriums (Grösse des Goldnuggets), sondern anhand beliebig vieler Kriterien (Grösse, Farbe, Form, Gewicht …). Zweitens kann der Computer sozusagen die Maschenweite seines Siebes eigenständig anpassen, wenn ihm gesagt wird, wonach er suchen soll.
Datenschürfern stehen heute fast unbegrenzt Rechenkapazität und Speicherplatz zur Verfügung. Deshalb können sie sogar noch einen Schritt weiter gehen: Sie befehlen ihren Programmen sozusagen, den ganzen Flusslauf abzusuchen und alle vorhandenen Steine, Kiesel und Goldklumpen in Gruppen einzuteilen – die Programme ordnen unstrukturierte Daten, suchen nach Ähnlichkeiten und Häufungen. Genau dazu soll nun die Software in der Lage sein, die das Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen anschaffen will - wozu eigentlich? Einbrecher fangen lässt sich mit dieser Art von Data Mining nicht; wofür also braucht die Polizei überhaupt solche technischen Möglichkeiten?
Das wären doch einmal Fragen, die zu beantworten sich lohnen würde.

Dienstag, 10. März 2015

Die Reproduktion der Qualifikation der Arbeitskraft erfolgt in den Formen der ideologischen Unterwerfung.

Louis Althusser, Ideologie und ideologische Staatsapparate, Hamburg / Berlin 1977. Seite 119.

Donnerstag, 5. März 2015

"Gesundheit lässt sich nicht verordnen"

schreibt Angela Kalisch in ihrer Besprechung von Mythos Vorbeugung in der Pharmazeutischen Zeitung:
Anhand zahlreicher Beispiele aus der Geschichte der Medizin auf der einen und der sozialgesellschaftlichen Entwicklung auf der anderen Seite leitet der Autor ab, welche Rahmenbedingungen krank machen. Demnach sind wir heute an einem Punkt angelangt, an dem die medizinische Forschung mehr oder weniger in einer Sackgasse steckt, während die Verhältnisse, unter denen gelebt und gearbeitet wird, einzig auf die wirtschaftliche Optimierung ausgerichtet sind.
Etwas ausführlicher beschäftigt sich Joseph Kuhn in Dr. Mabuse mit meinem Buch:
Prävention kann durchaus auch jenseits der gesellschaftskritischen Ebene sinnvoll sein. Dennoch macht sein Buch in hervorragender Weise klar, warum das aktuelle Präventionsgesetz, bei allen positiven Aspekten, den Kern unserer Probleme nicht trifft ... lehrreich, gut geschrieben, fachlich fundiert und politisch engagiert ...

Dienstag, 3. März 2015

An den Früchten ihrer Stilblüten sollt ihr sie erkennen

Die gesundheitliche Vorbeugung im bevölkerungspolitischen Interesse ist zutiefst antisozial und bürgerlich. Sie spaltet, vereinzelt, dressiert. Für die Gesundheit der Bevölkerung sind diese Vorbeugungsmaßnahmen in Wirklichkeit nicht nur nutzlos, sondern schädlich.

Deutsche Gesundheitspolitikern greifen dennoch beinahe täglich ins Phrasen-Reportoire und "Forderung: Mehr Verhältnisprävention" heraus. Sie plädieren für Maßnahmen, durch die soziale Unterschiede ausgeglichen werden sollen, so wie Sozialarbeiter sozusagen aus beruflichen Gründen die zunehmende Armut beklagen. Dies tut auch Thomas Spieß von der "Arbeitsgemeinschaft Gesundheit in der SPD", ein Kreis sozialdemokratischer Gesundheitspolitiker. Zunächst beklagt Spieß, wie ser sich die Lebensdauer zwischen arm und reich unterscheidet, um dann zu erklären:

Vorsorge müsse an der Lebensweise der Menschen, an ihrem Umfeld ansetzen. «Da geht es um Ernährung, Bewegung, um Strategien, das zu bewältigen, was es heißt, ein armer Mensch zu sein.»
Bei der Lebensweise ansetzen. Prävention bringt den Armen bei, wie sie ihre Armut bewältigen können. Besser, schärfer hätte ich es auch nicht sagen können.

Donnerstag, 26. Februar 2015

Wolfgang Schäuble hält sich die Ohren zu und lässt den Rollstuhl auf den Abgrund zu fahren

"Entsetzt" und "fassungslos" angesichts der "zornigen" "Drohungen" seines griechischen Amtskollegen sei er, meint Wolfgang Schäuble. Aber was hat Yanis Varoufakis denn eigenlicht gesagt?
Racists and nationalists will be the only ones to benefit if European leaders asphyxiate a democratically elected government like mine. This is what I tell my counterparts: if you think it is in your interest to shoot down progressive governments like ours, just a few days after our election, then you should fear the worst.
Das bedeutet: Schäuble und der Presse-Troß, der hinter ihm herzieht, sind derart in Rage, dass sie nicht einmal mehr lesen können oder verstehen wollen. Denn Varoufakis Aussage in dem Interview ist ja keine Drohung, sondern lediglich eine Warnung, allerdings eine, die ernstzunehmen ist. Statt mit Podemos und Syriza wird die Troika mit der Goldenen Morgenröte und den spanischen Faschisten verhandeln - wollen sie gerade das?

Der griechische Finanzminister hat wenig erreicht, aber viel versprochen. Es mag ein schwaches Argument sein, auf die Gefahr von rechts hinzuweisen, um das eigene Versagen zu kaschieren, aber recht hat er allemal. Schäuble dagegen, das ist einer, dem nichts Unmenschliches fremd ist, mit krankhaft reinem Gewissen und immer ein bißchen beleidigt.

Samstag, 21. Februar 2015

"Ihr nervt!" ...

... ruft Kerstin Bund in der aktuellen Zeit den Bahnarbeiterinnen und Bahnarbeitern zu, die vielleicht bald wieder streiken, und sie meint das auch so. Bund ist eine junge Wirtschaftsjournalistin, gerade mal 32 Jahre alt und Absolventin der Axel Springer Akademie. Sie hat ein Buch veröffentlicht, das im Untertitel
Anders leben. Anders arbeiten. Anders sein.
heißt und sich um die (vermeintlich) kommende Arbeitswelt dreht - Streiken gehört offenbar nicht zu ihr.
Für ihre engagierte Berichterstattung hat sie u. a. den Ernst-Schneider-Preis für Wirtschaftsjournalismus erhalten.
heißt es auf ihrer Autorinnen-Seite bei Der Zeit, weil Bund kämpft gegen Privilegien, sofern es solche von abhängig Beschäftigten sind.

Nun wäre ihr Artikel der Rede und das Bloggen nicht wert, wäre Bund nicht aus Versehen eine wunderbare Passage gelungen:

Bei der Bahn haben die Lokführer den bundesweiten Schienenverkehr bereits sechsmal lahmgelegt ... den Konzern kostet das bislang 150 Millionen Euro - und die Reisenden ihre Selbstbestimmung
weil die Reisenden nämlich nicht mehr machen können, was sie wollen und in München bleiben müssen statt selbstbestimmt nach Berlin zu fahren, wenn der Lokführer nicht mag, was fies ist, aber eben in dessen selbstbestimmter Entscheidungsmacht liegt, die für die Freiheit seiner Mitmenschen böse Folgen hat, während dagegen ein Stocken des steten Stroms schlechter Zeitungsartikel und schlechter Bücher keinem groß auffällt, ich fände es regelrecht wohltuend.

Donnerstag, 19. Februar 2015

Islamistische Apokalyptiker

Im Atlantic analysiert Graeme Wood den Islamischen Staat als apokalyptische Bewegung. Es gehe der Bewegung buchstäblich um das Ende der Zeiten, wenn Gläubige und Ungläubige, das Gute und Böse einander vernichten und das Reich Gottes anbricht.
During the last years of the U.S. occupation of Iraq, the Islamic State’s immediate founding fathers saw signs of the end times everywhere. They were anticipating, within a year, the arrival of the Mahdi—a messianic figure destined to lead the Muslims to victory before the end of the world. ...
For certain true believers—the kind who long for epic good-versus-evil battles—visions of apocalyptic bloodbaths fulfill a deep psychological need ... Parts are based on mainstream Sunni sources and appear all over the Islamic State’s propaganda. These include the belief that there will be only 12 legitimate caliphs, and Baghdadi is the eighth; that the armies of Rome will mass to meet the armies of Islam in northern Syria; and that Islam’s final showdown with an anti-Messiah will occur in Jerusalem after a period of renewed Islamic conquest.
Mit dieser Interpretation stellt sich der Autor ausdrücklich gegen die Ansicht, mit dem Islamische Staat könne verhandelt werden, und auch gegen die Behauptung, der Neofundamentalismus sei ein wesentlich modernes Phänomen. Wood beschreibt den IS vielmehr als eine Art millenaristische Sekte des europäischen Hochmittelalters, wobei er sich auf den Islamwissenschaftler Bernard Haykel bezieht.
There is a temptation to rehearse this observation—that jihadists are modern secular people, with modern political concerns, wearing medieval religious disguise—and make it fit the Islamic State.
... The fighters of the Islamic State are authentic throwbacks to early Islam and are faithfully reproducing its norms of war. This behavior includes a number of practices that modern Muslims tend to prefer not to acknowledge as integral to their sacred texts. “Slavery, crucifixion, and beheadings are not something that freakish [jihadists] are cherry-picking from the medieval tradition”.
Das Archaische am islamistischen Terror in Sysrien und im irak wäre also nicht nur "schmückendes Beiwerk", das auf die Rekruten aus dem Westen romantisch und anziehend wirkt und die unfassbare Brutalität bemäntelt. Es wäre zentral und erklärt sich aus der apokalyptischen Haltung der Bewegung.
The Islamic State has attached great importance to the Syrian city of Dabiq, near Aleppo. It named its propaganda magazine after the town, and celebrated madly when (at great cost) it conquered Dabiq’s strategically unimportant plains. It is here, the Prophet reportedly said, that the armies of Rome will set up their camp. The armies of Islam will meet them, and Dabiq will be Rome’s Waterloo or its Antietam.

Montag, 16. Februar 2015

Samstag, 14. Februar 2015

Wir werden (falsch) vermessen

Mit riesigen Datenanalysen können Computer unser Verhalten vorhersagen
so heißt es immer wieder, diesmal im Aufmacher des Wirtschaftsteils der aktuellen Ausgabe der Zeit. Der Artikel handelt von Big Data in allen möglichen Bereichen, von der Werbung bis zur Kriminalitätsbekämpfung, und Autor Uwe Jean Heuser strickt kräftig am Mythos, durch immer mehr Daten würden immer bessere Vorhersagen möglich.
Mit Hilfe selbstlernender Computerprogramme können Staaten und Firmen heute riesige Datenmengen nach Verhaltensmustern durchsuchen und daraus Konsequenzen ziehen für ihr Handeln … Es sind Algorithmen, die mit wachsender Präzision berechnen …
etc.

Und ich dachte, der Hype-Kurve hätte den höchsten Punkt überschritten! Worin die wachsende Präzision bestehen soll, verrät der Artikel nicht – wie auch, die statistischen Verfahren, die da zum Einsatz kommen, haben sich in den letzten sechzig Jahren keinen Deut verändert. Die Präzision ist insofern genau so groß oder klein, wie statistische Prognosen immer schon waren. Sie bilden Gruppenzugehörigkeiten und Regelmäßigkeiten ab, die es in der Wirklichkeit geben mag oder eben auch nicht. Die Interpretation von Korrelationen nehmen uns die Computer nicht ab. Entscheidend ist, wie viele verschiedene Datenquellen über dieselbe Person in die Analyse einfließen. Zum Einstieg in das Thema empfehle ich diesen Text von Tim Harford; ich selbst habe auch einige Informationen gegen den Hype zusammengetragen.

Seit gut zehn Jahren verfolge ich das Thema „Überwachung“ journalistisch und halte mich mit Kommentaren lieber zurück und mir die Ohren zu, wenn mir Mumpitz begegnet. Der erwähnte Zeit-Artikel schlägt aber dem Fass den Boden aus.
Zu Diskurswellen und Hype-Zyklen gehören immer auch Anekdoten oder isolierte Zahlen, die Journalisten voneinander abschreiben. Im vorliegenden Fall Big Data ist eine davon die Geschichte des harmlosen amerikanischen Jugendlichen, den die Polizei plötzlich verdächtigt, demnächst einen Mord zu begehen.

Furore machte der beunruhigende Fall eines 22-Jährigen ohne abgeschlossene Ausbildung, der das Pech hatte, in einer üblen Gegend zu wohnen. Er selbst hatte nie mit der Polizei zu tun gehabt. … Wer ihr diese Information verschafft hatte, sagte (die Polizei) nicht.
Mythen werden weitergetragen und dabei abgeschliffen, bis sie eine geschmeidige Form erhalten. Ich versehe durchaus, warum es schön gepasst hätte, wäre es denn so gewesen, aber besagter Pechvogel war nun einmal "öfter wegen kleinerer Delikte verhaftet worden" und die Information stammt aus dem Computerprogramm Blue Crush von IBM, das mit soziodemographischen Daten zum Wohnort und den Einträgen aus der Vorgangsdatenbank der Polizei gefüttert wird. Beim Abschreiben aus dem Internet Fehler machen – und damit kommt man heutzutage bei der Qualitätspresse durch?

Schlimmer als die schlampige Arbeitsweise ist, dass niemand beim Formulieren und Floskeln innehält und einmal kurz nachdenkt. Denn die andere unvermeidliche, sozusagen komplementäre Geschichte über Big Data findet sich natürlich auch, in demselben Text: jene junge Frau, deren Familie (in manchen Versionen sie selbst) nicht wusste, dass sie schwanger war und die trotzdem Werbung für Schwangere bekam.

Ich meine: Hallo? Wie passt das zusammen? Einmal beängstigend unfehlbare Vorhersage, einmal grundlose Verdächtigung?

Das passt zusammen, weil sehr viele Frauen besagte Werbung für Schwangere erhalten haben, die nicht schwanger sind - nennen wir sie der Übersichtlichkeit halber falsch negative Prognosen - und die in den vielen, vielen Artikeln zum Thema niemals erwähnt werden. Besagter junger Mann dagegen erfüllt die statistisch ermittelten Parameter, die für eine schwere Gewalttat sprechen. Begeht er sie, die Chance dazu hat er ja weiterhin, dann traf die Vorhersage zu - nennen wir es richtig positive Prognose. Begeht es sie nicht, dann lag der unfehlbare Algorithmus wohl falsch.

"Mindestens 330 Millionen Euro für ein weitgehend nutzloses Medikament"

Gestern Abend berichtete Transparency International Neues über das antivirale Mittel Tamiflu und das anhaltende "Tamiflunkern" und ich habe für Telepolis einen Artikel darüber geschrieben.
Das Medikament wurde zu einem Lehrstück über die Meinungsmacht der Pharmaindustrie, die unangenehme Daten aus der Forschung herunterspielen oder verschwinden lassen kann. Transparency fordert jetzt "eine neutrale wissenschaftliche Bewertung des tatsächlichen Gefahrenpotentials" durch "unabhängige Experten".

Dienstag, 10. Februar 2015

An ihren Power Point-Vorträgen sollt ihr sie erkennen.

Sonntag, 8. Februar 2015

"Wir brauchen wieder Politiker wie Bismarck oder Metternich!"

Ein neues Interview - mit Loretta Napoleoni, eine der vielen "Terror-Experten", nicht die schlechteste.
"Ich sage keineswegs, wir sollten mit dem IS offiziell verhandeln. Ich sage, wir sollten über informelle diplomatische Kanäle herausfinden, was sie eigentlich genau wollen. Eindämmung scheint mit die bessere Strategie zu sein, als weiter zu versuchen, sie auszuradieren. Dazu gehört allerdings ein Umdenken auf Seiten der USA. Einen Drohnenkrieg zu führen, ist politisch leicht durchzusetzen, aber er wird keine Lösung bringen. Auf diese Art werden wir nur den Stellvertreterkrieg zwischen den regionalen und Weltmächten verlängern, der den Aufstieg des Kalifats überhaupt erst ermöglicht hat."
An dieser Stelle weise ich darauf hin, dass ich mir die Meinung meiner Interpartner nicht zu eigen mache.

Freitag, 6. Februar 2015

Selbstoptimierung? Gesundheitsdiktatur? Bevölkerungspolitik!


In der aktuellen 'Konkret' habe ich zusammengefasst, was sich in meinem Buch 'Mythos Vorbeugung' an politischer Kritik und Analyse verbirgt. Gesundheitsförderung und gesundheitliche Prävention, das ist nämlich ein vertracktes Ding. Interessen von oben und Interessen von unten prallen hier aufeinander, aber sie vermischen sich auch. Ich habe versucht, diesem ambivalenten Charakter gerecht zu werden, statt sie auf einerseits eine "Gesundheitsdiktatur" und andererseits "Selbstoptimierung" zu vereindeutigen, zu reduzieren.
Das Ideal der gegenwärtigen Gesundheitspolitik im speziellen und der Bevölkerungspolitik im allgemeinen ist ein stummer Zwang. Sie scheut das Verbot und liebt den Anreiz. Einen Anreiz zu setzen bedeutet, ein vorhandenes Bedürfnis aufzugreifen, dann eine bestimmte Möglichkeit zu seiner Befriedigung zu bieten (und andere Möglichkeiten zu verhindern) und Verhalten so in eine gewünschte Richtung zu lenken. Angeblich zwingen Anreize nicht - sie empfehlen bloß. In Wirklichkeit verläuft zwischen Anreiz und Zwang keine klare Grenze.
Anreize sind ein gangbarer Weg, um sich Kontrollkosten vom Leib zu halten, und mit einem liberalen Selbstanspruch besser vereinbar. Theoretisch ist der liberale Staat nämlich der Wertneutralität verpflichtet. Ob seine Bürger Kinder machen oder es lassen, rauchen wie die Schlote, saufen wie die Löcher oder auch ob sie sich die Beine abhacken, all das geht ihn eigentlich nicht das geringste an. Praktisch hat er immer Erwünschtes normiert und Unerwünschtes stigmatisiert – eben Bevölkerungspolitik betrieben.
Es geht dem Staat also, zugespitzt gesagt, darum, den Zwang zum Verstummen zu bringen, eine notwendige Ergänzung der Notwendigkeit, als Eigentumsloser seine Haut zu Markte zu tragen. Die liberale Form der gesundheitlichen Prävention garantiert höchstens eine formelle Freiheit - aber diese formelle Freiheit ist kein Zufall, sondern einer bürgerlichen Gesellschaft wesentlich!
Mach es doch nicht so kompliziert? Doch, lasst es uns noch komplizierter machen! So lange, bis es so kompliziert wie die Wirklichkeit ist (und dann aber schnell aufhören!).
Die präventive Gesundheitspolitik nimmt das Individuum in Dienst, ihr Endziel ist die "Eigenverantwortung". Den eigenen Körper pflegt jeder und jede verantwortungsbewusst und mit wachsendem Aufwand - in der Regel haben wir ohnehin nichts anderes als unsere geistige und körperliche Gesundheit. Das Individuum ist vollständig proletarisiert, aber soll seinen Körper bürgerlich als individuellen Besitz betrachten. Gleichzeitig, und das ist entscheidend, verwandelt der Staat die Gefahr, krank zu werden, in ein individuelles Risiko mit drastischen Folgen.
Das Problem ist oft, dass die meisten Kritiker der bevölkerungspolitisch motivierten Vorbeugung ebenso individualistisch denken wie deren Befürworter, Propagandisten und Praktiker. Entscheidend ist aber der soziale Charakter von Gesundheit. Das meine ich nicht als moralisches Postulat, im Sinne von "Gesundheit ist keine Ware!". Ob es uns nun gefällt oder nicht, Gesundheit (im subjektiven Sinne: Zufriedenheit, im objektiven Sinne: Abwesenheit von Krankheit, Überleben) entsteht nur im Zusammenspiel zwischen Individuum und seinen Gemeinschaften, in den sozialen Feldern, in denen es sich reproduziert. Das bedeutet, wir müssen das Zusammenspiel von Staat und Individuum betrachten, um die merkwürdige Erscheinung Prävention zu verstehen.

Lässt sich Bevölkerungspolitik von einem konstruktivistischen Standpunkt kritisieren?

Donnerstag, 5. Februar 2015

"Ich werfe den Deutschen nicht vor, dass sie selbstsüchtig sind. Ich werfe ihnen vor, dass sie ein bisschen idiotisch sind."

Wer ist und was will dieser Yanis Varoufakis? Doug Henwood hat in seiner Radiosendung Behind the News den heutigen Finanzminister seit dem griechischen Aufstand 2008 sechszehnmal interviewt und gerade einige markante Stellen zusammengestellt. Das lohnt sich für alle, die sich nicht für tagesaktuelles Geschwätz über fehlende Krawatten und halbverstandene Spieltheorie interessieren.

Mittwoch, 21. Januar 2015

Von der Selbst- zur Fremdvermessung?

Als der Versicherungskonzern Generali Ende des letzten Jahres ankündigte, er werde günstigere Krankenversicherungen verkaufen, wenn Kunden im Gegenzug regelmäßig Sport treiben und dies über ein kleines Smartphone-Programm auch nachweisen, geriet das deutsche Feuilleton in Aufregung und sprach von
der Erfindung des elektronischen Patienten (Süddeutsche)Big Brother (Welt)ein Kulturbruch (FAZ)
Die wohl schwächste analytische Leistung lieferte damals Niklas Maak in der FAZ, der ebenso hochtrabend wie ahnungslos raunte:
was gesund ist und wie wir leben sollen, definieren zurzeit vor allem private Konzerne wie Generali, Allianz oder Axa und deren Algorithmen. … Mit dem Telemonitoring fällt die Grenze, die den Körper als einen Raum des Privaten, Intimen und unbedingt Geschützten definiert.
Solche Bonusprogramme funktionieren so: Die Versicherten installieren ein Computerprogramm auf ihrem internetfähigen Mobiltelefon und dokumentieren damit, dass sie an bestimmten medizinischen Untersuchungen teilnehmen oder (mithilfe des eingebauten Beschleunigungssensors des Telefons) Sport treiben oder Tagebuch über ihre Ernährung führen.

Kein Bericht vergaß zu erwähnen, dass es sich bei der geplanten

Veröffentlichung unserer Körper
um den ersten Versuch dieser Art in Europa handle, um einen "Tabubruch" eben. Dass sich die Aufreger sozusagen den falschen Aufhänger gesucht haben, fällt eigentlich nur am Rande ins Gewicht (wenn es auch ein deutlicher Hinweis darauf ist, wie tief das Niveau des deutschen Feuilletons gesunken ist). Denn deutsche gesetzliche Krankenversicherungen betreiben schon lange solche Bonusprogramme - DAK, Daimler BKK, Techniker - bei denen sich die Versicherten bisher allerdings nur recht geringe Preisnachlässe erarbeiten können. Die Versicherungen tun das auch mit Hilfe von Smartphone-Apps, aber auch mit den bekannten analogen Bonusheften.

Nein, das war nicht das Schlimme an dieser Debatte, sondern ich war schockiert, wie hilflos und schwächlich die liberale Kritik in der Debatte um das Projekt Generalis war.

Donnerstag, 15. Januar 2015

Dienstag, 13. Januar 2015

Je suis Charlie – mais qui est-ce?

Wer in diesen Tagen so unvorsichtig ist, Radio, Fernsehen oder Internet zu nutzen, merkt: Jetzt soll die Zeit der Verbrüderung sein. Wir alle sind "Charlie", der Sarkozy, vielleicht sogar Le Pen, die Merkel, ich und meine Tante.

Ich habe mich lange Zeit in der Debatte über den Islamismus recht weit aus dem Fenster gelehnt. Ich bin immer noch überzeugt: Es gibt nur wenige Salafisten unter den Muslimen (wie immer wir diese Gruppe definieren wollen). Es gibt noch weniger jihadistische Salafisten. Einer Reformation und Säkularisierung in der muslimischen Welt und der muslimischen Diaspora stehen zwar besondere Hindernisse entgegen, theologische, aber auch Rassismus und Marginalisierung. Aber dies sind überwindbare Hindernisse, tatsächlich hat eine Säkularisierung längst begonnen, auch wenn islamistische Parteien in einigen Ländern an die Regierung gekomen sind.

Jetzt höre ich die Kommentare zu den Anschlägen in Frankreich - und wundere mich, wie unpolitisch, wie psychologisierend und naiv über die Täter geredet wird, wie verharmlosend das alles auf einmal klingt.

Montag, 12. Januar 2015

Ein jeder seiner Gesundheit Schmied?

Wer ist für die eigene Gesundheit verantwortlich? Viele glauben, jeder ganz allein. Aber geht das überhaupt? Wenn, mit den Worten des ehemaligen Gesundheitsministers Daniel Bahr gesprochen, "eine Solidargemeinschaft nur funktioniert, wenn jeder tut, was er kann, um gesund zu bleiben" - womit zum Teufel sollte er anfangen?

Ich habe der Sendung "Vis á vis" bei RBB Inforadio ein Interview zum Thema gegeben, das hier zu finden ist. Erstaunlich, wie kohärent ich klingen kann, solange ich ein Mikrophon vor der Nase habe ...

Samstag, 10. Januar 2015

Ich gehe durch das nördliche Neukölln, mit einer Symphonie des späten Dmitri Shostakovich auf den Ohren. "Erledigungen machen." Aber Shostakovich, der kommt mit.
Schwarze Streicher.
Verlassene Trompete.
Verzweifelte Melodien.

Nach einer Weile stellen sich, ungefähr in der Mitte zwischen Bäcker und Schuhgeschäft, Selbstmordgedanken ein.
Dann der dringende Wunsch, mich dem Rotfrontkämpferbund anzuschließen.
Den gibt es nicht mehr.
Spielerische Selbstmordgedanken.

Freitag, 9. Januar 2015

"Streitschrift für eine egalitäre Gesellschaft"

Peter Nowak rezensiert "Mythos Vorbeugung" in der aktuellen Ausgabe der Sozialistischen Zeitung:
Becker zeigt auf, dass gerade im Zuge der jüngsten Weltwirtschaftskrise in Ländern wie Griechenland und Spanien Krankheiten, die bisher als beherrschbar galten, wieder eine tödliche Gefahr, vor allem für arme Menschen, werden. Sein gut lesbares und dennoch informatives Buch ist auch eine Streitschrift für eine egalitäre Gesellschaft – gegen die Privatisierungstendenzen, die auch im deutschen Gesundheitswesen unübersehbar sind.

Donnerstag, 8. Januar 2015

"Eine gesellschaftliche Verhältnisarchitektur, die ein sinnvolles Lebens ermöglicht"

Peter Moeschel bespricht "Mythos Vorbeugung" in Spectrum, der Literaturbeilage der österreichischen Presse.
Becker ist kein medizinfeindlicher Querulant. Sein Verdienst ist es vielmehr, einen materialreichen und differenzierten Überblick über die fachlichen Kontroversen zum Thema Vorsorge zu bieten. Wenn er dabei eine kritische Position bezieht, so doch nur auf Basis von fundierten Argumenten.
Danke für die Blumen! Eine Fundamentalkritik an "der Medizin" ist von mir bestimmt nicht zu erwarten. Ich glaube nämlich an die heilende Kraft von Aspirin, an die Macht der Antibiotika (auch wenn die gerade nachlässt), ich glaube an die geoffenbarte Wahrheit der Statistik und den Satz von Bayes über bedingte Wahrscheinlichkeit.

In gewissem Sinn bin ich sogar ein Anhänger der sogenannten Schulmedizin - aber einer, der deren Grenzen sieht und versteht, dass Gesundheit anderswo entstehen muss als in der Arztpraxis. Das glauben viele praktizierende Mediziner, nebenbei bemerkt, auch; sie wissen es aus eigener Erfahrung.

Mittwoch, 7. Januar 2015

"Gesellschaftskritik, die sich nicht in Reformschlingen verheddert"

Der Sozialwissenschaftler Arnold Schmieder hat die bisher gründlichste und interessanteste Rezension von „Mythos Vorbeugung“ verfasst - zu finden auf Socialnet - und mich damit glücklich gemacht. Klänge es nicht so pathetisch, würde ich laut rufen:

"All die Mühen, die tränenden Augen und die Rückenschmerzen von der ganzen Internetrecherche, die hohen Ausgaben für Kaffee und Kaugummi und die ausbleibenden Einkünfte - sie haben sich gelohnt!"

Denn Schmieder fasst nicht nur meine Argumentation klar und vollständig zusammen, sondern er denkt auch die Probleme weiter, die ich im Rahmen eines populären Sachbuchs nicht ausführen konnte und die daher nur unter der Text-Oberfläche behandelt werden. Sein schmeichelhaftes Fazit:
Ein Weiterdenken auf Gesellschaftskritik, die sich nicht in Reformschlingen verheddert, regt er an. Nicht nur damit legt er ein Buch vor, das in universitären Seminaren, die mit dieser Thematik befasst sind, einen prominenten Stellenwert für die Diskussion einnehmen dürfte und sollte, sondern die Lektüre wird für all diejenigen gewinnbringend sein, die in Bezug auf die sie entfallenden Präventionsgebote ein "feines Gespür" dafür haben, "ob ihre Meinung lediglich gefragt ist oder entscheidet" – und die sich eine ausgewogene und abwägende Meinung bilden wollen, die zu wissensgesättigten Entscheidungen befähigt und berechtigt.
Besonders interessant sind Schmieders Anmerkungen zum Schlaf und seiner gesellschaftlichen Regulation.