Montag, 21. September 2015

Mythen der Prävention revisited

Heute kam in der Sendung "Zeitfragen" beim Deutschlandradio Kultur mein Feature über Mythen und Halbwahrheiten der gesundheitlichen Prävention. Ich versuche einerseits ein realistisches Bild der Möglichkeiten von Vorbeugung zu zeichnen, andererseits die Frage zu beantworten, aus welchen Quellen sich der Glaube an die Macht der Vorbeugung speist.

Die medizinisch fundierte Bevölkerungspolitik bringt Bürger und Obrigkeit in ein besonderes Verhältnis, bei dem es sich nicht um bloßes Unterwerfungsverhältnis handelt, auch wenn Zwang immer zu ihm gehört. Insofern geht es in dem Stück auch die Frage, wie "liberal" der Neoliberalismus eigentlich ist, oder, wie ich es nenne, den Charakter der gegenwärtigen Bevölkerungspolitik.

Soviel ist klar: Der Kern des Präventionsglaubens ist ein Begriff, der uns unmittelbar einleuchtet, der aber immer zwiespältiger wird, je genauer wir ihn betrachten: Eigenverantwortung. Eng verbunden damit ist der zweite Schlüsselbegriff der Prävention: Anreiz. Die gesundheitliche Vorbeugung scheut nämlich das Verbot und die Strafe, sie entsprächen ja nicht dem Umgang mit einem mündigen, eigenverantwortlichen Bürger. Angeblich nötigt sie niemanden, sie "empfiehlt" lediglich, "bestärkt", "unterstützt" oder "macht Angebote".

Wer trägt die Verantwortung für eine spätere Erkrankung – der Staat? Die Allgemeinheit? Das Individuum? Im neuen Präventionsgesetz heißt es dazu sehr grundsätzlich: "Jeder Einzelne trägt die Verantwortung für die Chancen und Risiken seines Lebens. Diese Eigenverantwortung gilt es zu stärken."

Laut dem ehemaligen Gesundheitsminister Daniel Bahr muss der Einzelne sogar "tun, was er kann", um sich gesund zu erhalten. In der Bundestagsdebatte zum Präventionsgesetz im Jahr 2013 sagte er: "Im Gesundheitswesen gehören Solidarität und Eigenverantwortung untrennbar zusammen, denn die Solidargemeinschaft funktioniert nur, wenn sie sich auch darauf verlassen kann, dass der Einzelne in Eigenverantwortung für seine Gesundheit tut, was er für seine Gesundheit tun kann. "Mir geht es dabei darum, dass ich nicht obrigkeitsstaatlich mit dem Zeigefinger den Menschen vorschreiben möchte als Gesundheitsminister, was sie zu tun haben, sondern wir wollen ihnen Anreize setzen, dass sich gesundheitsbewusstes Verhalten für sie unmittelbar lohnt."

Erst wenn der Einzelne dieser Mindestanforderung genügt, kann er auf Unterstützung und Hilfe hoffen. Wer aber eigenverantwortlich handelt, soll dafür entschädigt werden. Sich gesund zu verhalten soll sich also lohnen, finanziell lohnen. Das neue deutsche Präventionsgesetz beispielsweise sieht vor, dass Versicherte einen Teil ihrer Beiträge zurückerhalten, wenn sie Gesundheitskurse besuchen oder sportliche Aktivitäten nachweisen können. So versucht die präventive Gesundheitspolitik, das vermutlich Nützliche und das moralisch Richtige zur Übereinstimmung zu bringen.

Ich musste einiges kürzen oder nur anreißen. In meinem Buch "Mythos Vorbeugung" finden sich mehr Argumente und Fakten, als in dem Feature Platz hatten.