Donnerstag, 22. September 2022

Ich habe Veronika Setteles "Deutsche Fleischarbeit" für Andruck / Deutschlandfunk besprochen, eine Geschichte der Massentierhaltung in Deutschland. Es handelt sich, natürlich, in erster Linie um eine Rationalisierungsgeschichte:

Die industrielle Revolution im Stall hat die Erträge enorm gesteigert. Eine deutsche Durchschnittskuh gab im Jahr 2000 fast dreimal so viel Milch wie fünfzig Jahre zuvor. Die Durchschnittshenne legte fast dreimal so viele Eier.
In den Vereinigten Staaten und über einen längeren Zeitpunkt (zum Beispiel von den 1950er Jahren bis heute) sind die Mengensteigerungen bei Milch, Fleisch und Eiern noch beeindruckender.

In meinem Buch Klima, Chaos, Kapital vom letzten Jahr spielt die agrarische Rationalisierung eine Schlüsselrolle. Sie trägt dazu bei, die relative Prosperität seit den 1970er Jahren und damit den (ebenso relativen) Erfolg der neoliberalen Globalisierung zu erklären. Die Rationalisierung der Landwirtschaft ist ökonomisch nicht nebensächlich, sondern unabdingbar, um zu erklären, wie wir in die gegenwärtige Misere geraten sind!

Die krisentheoretische Pointe daran ist, dass die Fruchtbarkeit des Bodens (in ihren vielen unterschiedlichen Formen) sich mit den bestehenden Methoden kaum noch steigern lässt, beziehungsweise dass diese Methoden die klimatisch-ökologische Krise weiter verschärfen. Die Nahrungsproduktion wurde seit dem 2. Weltkrieg "globalisiert". Sie beruht wesentlich auf weltweiten Stoff- und Energiekreisläufen (Agrarwissenschaftler sprechen in diesem Zusammenhang auch von teleconnections). Entsprechend sind die Folgen global, wenn auch unregelmäßig verteilt.

Um Missverständnissen vorzubeugen: die Produktion von Mehrwert und Nährwert umfasst nicht nur Landmaschine, mineralischen Dünger und den Humus im Boden, Sie umfasst ebenso die Eigentums- und Distributionsformen, die Spekulation an den Weizenbörsen und die staatlichen Subventionen der Brotpreise, die Landarbeit und ihre Reproduktion (und Migration) und vieles, vieles mehr. Eine angemessene Rationalisierungsgeschichte behandelt Natürliches und Gesellschaftliches als (widersprüchliche) Einheit.

Die Vorarbeiten für das Buch waren ziemlich mühsam, weil es keine geschlossene Darstellung dieser Zusammenhänge gibt, jedenfalls habe ich keine gefunden. Agrarsysteme scheinen für die Wirtschaftswissenschaften kein würdiges Thema zu sein. Die Externalisierung der ökologischen Folgen entspricht der Externalisierung der biologischen Grundlagen. Sie werden speziellen Disziplinen überantwortet, deren Ergebnisse fast immer unberücksichtigt bleiben.

Diese Verdrängung steht am Anfang der bürgerlichen Epoche. Die Physiokraten, die den Mehrwert noch aus der Bodenfruchtbarkeit erklärten, verloren jeden politischen und wissenschaftlichen Einfluss. In Wohlstand der Nationen (1776) bringt Adam Smith klar seine Ansicht zum Ausdruck, dass die Natur irrelevant sei:

Wie der Boden, das Klima oder der Umfang einer spezifischen Nation auch beschaffen sein mögen, das reichliche Vorhandensein oder der Mangel an täglichen Versorgungsgütern wird von zwei Faktoren abhängen, nämlich dem Können der Arbeitenden und dem verhältnismäßigen Anteil der nützlichen und der untätigen Mitglieder der Gesellschaft. Nicht die natürlichen, nur die menschlichen Faktoren werden berücksichtigt.
(zitiert nach Karl Polanyi, The Great Transformation, Seite 158)
Diese Perspektive wurde wegweisend und dominant und ist es bis heute geblieben. Die Arbeit entscheidet, sie formt Natur fast widerstandslos, reibungslos um. Diese Behauptung kann aber nur so lange plausibel scheinen, wie die Nebenfolgen der rationalisierten Produktion nicht selbst wieder zum Problem werden oder wenigstens die Rationalsierung "in Summe gelingt". Gerade das ist heute aber nicht mehr der Fall. Die Nebenfolgen zeigen sich nicht nur in Gestalt zerstörter Landschaften und stockender oder ausfallender ökologischer Kreisläufe, sondern auch in Hinblick auf Produktionskosten und Profite. Allerdings trifft es nicht in erster Linie die Kosten und Profite des Agrarkapitals selbst, sondern es zeigt sich in erster Linie an steigenden gesamtökonomischen Kosten, für Energie, Arbeit und Transport und anderes.

Die Methoden, um die landwirtschaftlichen Erträge zu steigern, waren niemals ohne Nebenfolgen, aber sie zeigten sich eben anderswo und später. Sie wurden räumlich und zeitlich verschoben, die Rechnung zahlten andere, zum Beispiel für die Stoffeinträge in die Umgebung der Äcker und Anlagen. Die gelingende Externalisierung beruht deshalb auch auf politischen Voraussetzungen, zum Beispiel einen unterstützenden Staat und eine desinteressierte oder einflusslose Öffentlichkeit. Solche Voraussetzungen können erodieren. Dann müssen die Unternehmen die Kosten internalisieren und die Preise steigen. Die notwendige Internalisierung der gegenwärtigen Nebenfolgen der Nahrungsproduktion würde aber nicht nur das Agrarkapital treffen und vielleicht zu einer Art Modernisierung zwingen, sie würde das schwächliche Weltwirtschaftswachstum gänzlich abwürgen. Und so fahren wir weiter ungebremst in Richtung Kollaps.