Es gibt in Wirklichkeit kein einheitliches System der Bewertung der Bürger in China, ein solches System ist auch nicht in Planung.Leider ist diese Aussage nur halbrichtig. Korrekt ist: Es gibt bisher kein einheitliches System, und ob in der Zukunft eines entstehen wird, ist unklar. Stattdessen existiert ein Flickenteppich aus Datenbanken von Lokalregierungen und kommerziellen Anbietern, die keine Informationen untereinander austauschen. Dabei handelt es sich meist um Systeme, die mithilfe von Scoring-Verfahren die Kreditwürdigkeit bewerten. Andere kommerzielle Systeme funktionieren wie Rabattkarten. Eine Handvoll Provinzregierungen arbeitet mit Listen, die besonders vorbildliche Mitbürger verzeichnen beziehungsweise notorische Gesetzesbrecher.
Falsch ist allerdings, dass es keine offiziellen Planungen gab. 2014 veröffentlichte der Staatsrat der Volksrepublik ein Strategiepapier mit dem Titel „Umrisse für die Einführung eines Sozialkredit-Systems“. Die Bewertungsverfahren sollen Anreize für gesetzestreues Verhalten schaffen, schädliche Spekulation und Korruption zurückdrängen und dadurch das gesellschaftliche Vertrauen fördern. Das Papier argumentiert rein ökonomisch, von politischer Subversion ist nicht die Rede.
Ein Jahr später erlaubte die Regierung acht Technologiefirmen, Social Credit-Systeme zu entwickeln, darunter auch einer Tochterfirma des Konzerns Alibaba. Letztere entwickelte daraufhin Sesame Credit, ein Score, in den Signale aus der Internetkommunikation einfließen. Allerdings entschied die Regierung bereits 2017, dass kein bestehendes System auf die Nation insgesamt ausgeweitet und verpflichtend werden sollte. Ob ein einheitliches System entstehen wird, das jeden chinesischen Bürger erfasst, ist unklar. Ich habe Genia Kostka deswegen angeschrieben, die zu diesem Thema forscht. Sie sagt, dass die Zentralregierung nächstes Jahr wahrscheinlich eine neue Strategie veröffentlichen wird.
Der chinesische Staat nutzt die Möglichkeiten der digitalen Vernetzung um die Bevölkerung zu überwachen und seine Propaganda zu streuen, teilweise einschließlich von Online-Pragern. Aber er führt die diversen Datenquellen bisher nicht zusammen, wenigstens nicht öffentlich und allgemein. Deutsche und amerikanische Journalisten und Experten verfassen dennoch Seite um Seite über den asiatischen Big Data Brother. Wie zu Beispiel Axel Dorloff, der ARD-Korrespondent (!) in Peking, der dichtet:
Wer schaut heimlich Pornos? Wer lästert über die Partei in den sozialen Netzwerken? Wer fährt einfach bei Rot über die Ampel? Wer pflegt seine Eltern nur halbherzig? Wer wirft seinen Müll auf die Straße? Die chinesische Regierung will Antworten auf all diese Fragen. Daher durchleuchtet der Einparteien-Staat seine Bürger digital bis ins kleinste Detail.Das passt zum Feindbild und läge doch so nahe. Stimmt halt nicht. Ich empfehle einen neuen Artikel von Wired, der nicht nur einen Überblick über die chinesische Situation gibt, sondern auch zu erklären versucht, wie es zu dem Missverständnis kam. Dass Projektion dabei eine Rolle spielte, dabei bleibe ich.