Leider enttäuscht diese Sendung, trotz kundiger Interviewpartner, aber dies auf instruktive Weise: Sozialmedizin ohne soziale Kritik geht an den (Gesundheits-)Problemen der unteren Schichten vorbei. Der Beitrag zeigt exemplarisch, woran gut gemeinte Gesundheitspolitik scheitert. Denn hinter der Leitfrage, wie die "Pandemiepolitik" mehr Menschen erreichen kann, verbirgt sich in Wirklichkeit nichts anderes als das Problem, dass die Impfquoten in eher migrantischen und eher ärmeren Stadtvierteln und Kommunen durchschnittlich niedriger liegen.
Im Verlauf der Sendung stellte sich dann heraus, dass die Impfbereitschaft keineswegs eindeutig mit Migrationshintergrund und niedrigem Einkommen zusammenhängt. Unbelehrbare Impfskepsis in ideologisierter Form ist beispielsweise besonders im Bildungsbürgertum verbreitet, in einigen Gruppen von Migranten und Armen dagegen kaum - Differenzierung tut not! Aber das wirklich Problematische (und Exemplarische) an diesem Radiobeitrag ist die verkürzte Fragestellung.
Bekanntlich sieht für einen Menschen mit einem Hammer alles wie ein Nagel aus, und für die Hammer-Verkäufer existieren überhaupt nur nagelförmige Probleme. So bestimmt sich auch in diesem Fall das Problem entsprechend der vermeintlichen Lösung: impfen, impfen, impfen! Um die Leute dazu zu bringen, sich immunisieren zu lassen, müssen wir sie allerdings erst einmal davon überzeugen, dass dies richtig und wichtig ist.
Daher dreht sich der Beitrag um die Frage der richtigen Kommunikation: Wie machen wir den Proleten klar, dass Impfungen im allseitigen und gleichzeitig im eigenen Interesse sind - in einfacher Sprache, mit Angstsignalen oder Appellen an ihre Solidaritätsbereitschaft? Die Diskussionsteilnehmer betonen, man müsse „auf Augenhöhe miteinander reden“, „zielgruppenspezifisch“, authentisch, „die Leute abholen“, wo sie sich befinden. Das ganze Programm eben. Aber scheiternde Impfkampagnen sind nicht nur ein Kommunikationsproblem. Dafür gibt es tief verwurzelte soziale Ursachen.
Nebenbei: die Fixierung auf Kommunikation ist Ausdruck und Folge der neoliberalen Hegemonie, wegen der konkrete soziale Veränderungen unvorstellbar sind, im Gegensatz zu nett gemeinten Sprachregelungen. Das greift immer weiter um sich und hat offenbar auch die Public Health erreicht – eine deprimierende Schwundstufe der sozialmedizinischen Kritik an den Verhältnissen.
Der soziale Gradient in Bezug auf Covid-19 - der Einfluss von Einkommen und Bildung auf Morbidität und Mortalität - ist schockierend, so schockierend wie die Differenz in der Lebenserwartung von 12 Jahren zwischen den ärmsten und den reichsten Schichten. Aber SARS-CoV-2 ist eben nur ein gesundheitliches Risiko unter vielen. Für eine 30-jährige Neuköllnerin mit geringem Einkommen beispielsweise ist Covid-19 nicht, ich wiederhole: nicht das drängendste gesundheitliche Problem. Wie so oft werden bestimmte Risikofaktoren dramatisiert (zum Beispiel: keine Maske im öffentlichen Raum, Rauchen), andere und bedeutsamere Faktoren bleiben dagegen unerwähnt (Wohnverhältnisse, Luftqualität, berufliche und familiäre Belastungen). Denn die gesundheitliche Aufklärung von oben stellt die Faktoren heraus, die im Bereich des eigenen Verhaltens liegen (oder wenigstens so aufgefasst werden können), Einflüsse, die sich individualisieren lassen. Was soll die erwähnte Neuköllnerin auch unternehmen gegen ihre Feinstaubbelastung?
Wer das Prinzip „Keine Maßnahmen für uns ohne uns“ wirklich ernst nimmt, muss dagegen bei den konkreten gesundheitlichen Problemen ansetzten, statt eine Kampagne für eine spezifische Intervention zu organisieren. Das größere Risiko der Unterschichten ergibt sich schließlich nicht aus ihrer Impfskepsis (zugegeben: nicht nur deswegen), sondern aus der stärkeren Exposition (zum Beispiel weil die Unterschichtler:innen häufiger systemrelevante Berufe ausüben), einer insgesamt größeren Anfälligkeit (Schlagwort "sozialer Gradient") und geringeren Ressourcen, um sich vor einer Ansteckung zu schützen. Der geringere Zugang zur biomedizinischen Versorgung erklärt überhaupt nur einen Teil des sozialen Gradienten (und zwar ein kleinen - schaut es nach, wenn ihr mir nicht glaubt, zum Beispiel hier).
Eine Pandemie wie Covid-19 lässt sich nicht ausschließlich mit Impfungen eindämmen. Echte Verhältnisprävention wurde allerdings niemals ernsthaft erwogen, nicht einmal im Pflegebereich, wo die meisten Todesopfer zu beklagen sind. Was also bleibt übrig? Mahnungen, Warnungen und moralisierende Appelle. Wer nur einen Hammer im Werkzeugkasten liegen hat, der hämmert eben.
Die geringere Impfbereitschaft in den Unterschichten,
hat Folgen für die Ausbreitung in der ganzen Gesellschaftbetont die Moderatorin, zurecht. Während einer Epidemie wird schlagartig sichtbar, dass wir tatsächlich in einer Gesellschaft leben, miteinander zu tun haben, einander brauchen und eben auch anstecken. In klassischer Weise brachte dies der Stadtplaner William Lindley auf den Punkt, als er vor etwa 170 Jahren schrieb:
Mangel an Reinlichkeit macht die Bevölkerung um so empfänglicher für verheerende Seuchen, wie Cholera, Blattern, Fieber usw., und fördert das Verweilen und Wiederkehren derartiger Krankheiten, die erfahrungsmäßig bei einem gewissen Grade der Ausbreitung auch die Wohnungen der Wohlhabenden ergreifen.Anders gesagt, der Gesundheitszustand in den Unterschichten wird interessant, wenn er Infektionskrankheiten entstehen und grassieren lässt, die auch die Bourgeoisie bedrohen.
Dass eine derart große Konfusion über Covid-19, die reale Gefährlichkeit des Erregers und sinnvolle Gegenmaßnahmen entstehen konnte, ist ein Ausdruck eines tiefen Misstrauens gegenüber Behörden, Staat und Wissenschaft. Dieses Misstrauen grassiert nicht nur, aber gerade auch in Unterschichten, aus nachvollziehbaren Gründen, aber mit (buchstäblich) fatalen Folgen. Ich kann die Unwilligkeit, den Impfappellen Folge zu leisten, nachvollziehen, auch wenn ich es falsch finde. Von der (arbeitenden) Unterschicht wird doch ganz selbstverständlich erwartet, dass sie die eigenen Körper verschleißt, gesundheitliche Gefahren ausblendet, sich nicht so anstellt. Nur während einer Pandemie, da soll alles auf einmal anders sein! Das ist schwer zu begreifen, für manche Menschen offenbar gar nicht, und manche erklären es sich mit unsinnigen Theorien über den Great Reset oder Impf-Kapitalisten.
Bestimmte Todesursachen werden skandalisiert und dramatisiert, andere dagegen ignoriert. Wieso sich das so verhält, lässt sich nicht ohne weiteres Nachdenken verstehen. Es hat zu tun mit dem Charakter solcher Pandemien und Epidemien. Sie kosten nicht nur Leben, sondern bedrohen Sicherheit und Ordnung und den gewohnten Gang der gesellschaftlichen Verhältnisse. In einer solchen Situation wird der Gesundheitszustand der Armen interessant, weil sie Infektionen weitertragen und Epidemien aufrechterhalten - liegt dieser Zusammenhang nicht eigentlich auf der Hand?