Dienstag, 2. August 2011

"Allzu simple Grundannahmen"


Mein Interview mit Rey Koslowski über Grenzkontrolltechnik steht bei Telepolis im Netz.

Koslowski ist kein Kritiker von nationalstaatlichen Grenzen, er plädiert für eine "realistische", humanistische und liberale Einwanderungspolitik. Interessant finde ich nicht nur das US-amerikanische Beispiel dafür, wie mit SBI.net eine hochtechnologisch aufgerüstete Grenze scheitert, sondern folgenden, ganz grundsätzlichen Punkt:
Viele Entwickler ziehen nicht in Betracht, dass ihre Kontrahenten strategisch denken.

Grenzsicherung ist, wie es in dem entsprechenden Jargon heißt, eine Frage der security, nicht der safety: es geht um die Kontrolle von denkenden Subjekten, deren Verhalten sich nicht voraussehen lässt.

In meinem Buch "Datenschatten" habe ich diesen Punkt ausführlich zu entwickeln versucht. Gerade für die Frage der Überwachung hat er wichtige Konsequenzen. Denn das Verhalten des anderen zu kennen - des Verbrechers, Grenzgängers, Arbeiters - bedeutet eben nicht, es auch kontrollieren zu können. Damit Überwachung im Sinne der Überwacher funktioniert, muss hinter ihr eine realistische Drohung stehen. Koslowski:
Das Problem an dieser (Grenzsicherungs-)Strategie ist, dass sie nur funktioniert, wenn es ausreichend Zeit, Raum und Arbeitskräfte gibt, um angemessene Kontrollen durchzuführen.

Überwachug und Kontrolle werden fälschlich in eins gesetzt. Dass diese ganz einfache Tatsache immer wieder unter den Tisch fällt, ist eine Wirkung des "technologischen Fetischs", der scheinbaren Steuerung der Menschen durch Maschinen, obwohl sich hinter diesen andere Menschen verbergen.

Aber das ist nur eine Wirkung des technologischen Fetischs. Eine andere ist, dass technikgestütze Überwachung niemals fälschungssicher sein kann, weil - ich muss mich wiederholen - das Objekt der Überwachung ein denkendes Subjekt ist, das Wege finden kann, die Datenerhebung zu manipulieren.

Zusammengefasst: Der populäre Ausspruch Francis Bacons, dass Wissen Macht sei, wird in ganz unangemessenen Zusammenhängen benutzt. Bacon meinte nämlich, dass die Kenntnis der Naturgesetze den Menschen mächtig machen würde. Auf soziale Verhältnisse übertragen ist dieser Satz falsch. Hier besteht die Macht des einen im Unwissen des anderen, in ihrem Wissensvorsprung, der aber in vielen Fällen nicht lange vorhält. Das oft zitierte "Katz und Maus - Spiel" zwischen den Überwachern und den Überwachten ist deshalb die fließende Gestalt, die ihre Auseinandersetzung annimmt.

Das wiederum hat Konsequenzen für alle, die über Überwachungstechnik berichten oder in der ein oder anderen Form "surveillance studies" betreiben. (Dieser Punkt ist mir erst gestern klar geworden.) Es ist - solange man sich dabei nicht auf Diskurse und Diskursformationen beschränkt - unmöglich, nicht den Überwachten zu nutzen, wenn man die Techniken der Überwacher publiziert. Die Analyse kann nicht neutral sein, weil sie sich aussuchen muss, wem sie ihre Erkenntnisse zur Verfügung stellt.