Wie immer ist mir wichtig, auf die prinzipiellen Grenzen automatisierter Überwachung und ihre sozialen Antriebskräfte hinzuweisen. Denn nur oberflächlich betrachtet ist die computergestützte Verbrecherjagd etwas Neues. In einer historischen Perspektive handelt es sich nur um die jüngste Etappe einer langen Entwicklung, die schon im frühen 19. Jahrhundert begann.
Das crime mapping nahm seinen Anfang in der französischen Kriminalgeographie von André-Michel Guerry und Adolphe Quételet. Sie versuchten, eine "Sozialphysik" oder auch "soziale Mechanik" (Quetelet) zu begründen, das bedeutet: Sie gingen von Regelmäßigkeiten in gesellschaftlichen Erscheinungen wie dem Verbrechen aus. Nur scheinbar folgen kriminelle Handlungen dem Zufall, sagten sie, und schufen die Kriminologie, die wissenschaftliche Lehre vom Verbrechen. Diese Wissenschaft arbeitet systematisch, ordnend, empirisch. Sie will sich nicht von Vorurteilen leiten zu lassen. Ihr Ausgangspunkt ist die Überzeugung,
dass in der Natur nichts zufällig geschieht, sondern alles Entstehen und Vergehen, alle Veränderungen notwendige Folgen von wirksamen Ursachen sindwie es der Mathematiker Moritz Wilhelm Drobisch im Jahr 1867 so treffend formulierte.
André-Michel Guerry trug bereits in den 1830er Jahren die Häufigkeit von Verbrechen und Selbsttötungen auf Landkarten Frankreichs ein und suchte nach aussagekräftigen Korrelationen. Dabei stellte sich beispielsweise zu seiner Überraschung heraus, dass mit dem Durchschnittseinkommen eines Départments die Kriminalitätsrate anstieg, nicht abfiel.
Das zeigt: Die technische Entwicklung folgt der gesellschaftlichen Aufgabe, in diesem Fall die Kriminalität zu kontrollieren. Die immer größere Auflösung der Karten - heute sagt man bekanntlich "Skalierbarkeit" dazu -, die wachsende Menge der statistisch verarbeiteten Daten, die neuen Möglichkeiten der Geoinformationstechniken ... all das bedingt an sich keine neue Qualität! Das kartographische Vorgehen Guerrys war nicht weniger revolutionär als die Verbreitung des Programms SPPS in den Polizeistationen, die wir gegenwärtig erleben. Die eigentliche Frage lautet: Kann die Polizei ihre Funktion nun besser erfüllen? Verändert sich diese Funktion?
Hier wird es (erst) interessant. Die "Automatisierung" der Polizeiarbeit - ein mißverständlicher Begriff, hinter dem sich in Wirklichkeit ganz unterschiedliche Praktiken verbergen - ist höchst widersprüchlich. Einerseits macht sie es möglich, das Verbrechen einfach sozusagen positivistisch als black box zu behandeln: Wen interessieren Ursachen, wenn die Vorhersagen stimmen? Der Computer sagt dem Streifenbeamten, wohin er zu gehen hat, verspricht die Werbung und raunt das Feuilleton. Diese Erwartung liegt dem Big Data-Hype zugrunde, weshalb der Journalist Chris Anderson bekanntlich "das Ende der Theorie" verkündete.
Aber das ist ein Mythos, so läuft das nicht. Immerhin wäre es unter bestimmten Umständen möglich, dass Predictive Policing dazu führt, dass die Entscheidungsspielräume der Einsatzkräfte eingeschränkt werden. Aber andereseits werden nun kriminologische Methoden - wir erinnern uns: das bedeutet wissenschafliche Methoden - von viel mehr Menschen angewandt als bisher. Damit vermassen diese Programme eine strategische Haltung zur Kriminalitätsbekämpfung.
Wie das? Bisher verließen sich Polizisten oft auf ihr Erfahrungswissen, wenn es um räumliche Brennpunkte oder Tätermerkmale ging. Die Übergänge zwischen diesem Bauchgefühl und Vorurteilen sind sehr fließend. Wissenschaftlich, also quantifizierend und "intersubjektiv nachvollziehbar" arbeitete nur eine Handvoll Experten in den Kriminologischen Forschungsstellen der Landespolizeien und an den Universitäten. Strategische, langfristige Einsatzplanung war Sache der Führungsebene (wenn überhaupt). Die Modelle des Predictive Policing beruhen aber auf Annahmen, die nun explizit gemacht und damit problematisch werden. Sie sagen:
"Hohes Durchschnittseinkommen"Ist es so? Welcher Umstand wirkt wirklich "krimonogen", welcher nicht? So kann die Technisierung der Polizeiarbeit, die gleiche maschinelle Apparatur gegenteilige Auswirkungen haben: Dequalifizierung oder Qualifizierung. Die Informatisierung verändert also die Arbeitsteilung innerhalb der Polizei.
+ "Lindenstraße"
+ "Wochentag"
+ "4 Uhr morgens"
= "75 Prozent Einbruchswahrscheinlichkeit"
Noch wichtiger als die Frage der Arbeitsteilung ist aber wohl etwas anderes. Mit den neuen Datenströmen, die ihr nun zugeleitet werden, mit einer zunehmend wissenschaftlichen Haltung verändert sich das Verhältnis der Polizei (als Institution) zu der Gesellschaft, die sie beobachtet und kontrollieren soll. Ihre "gesellschaftssanitäre Aufgabe" (Horst Herold) nimmt die abzustellenden sozialen Erscheinungen immer weniger als naturgegeben und naturwüchsig hin. Sie denkt und handelt zunehmend präventiv und schaut noch genauer hin - wie es bereits die Kriminalitätsgeographen des 19. Jahrhunderts taten.
Nennen wir es Fortschritt: mehr vom selben.