"Die sollen erst mal ihre Hausaufgaben machen!" In keinem anderen Land gibt es eine vergleichbare Formulierung. Nirgendwo ist so oft zu hören, jedes Land müsse sich zunächst selbst um die eigene Wirtschaft und Wettbewerbsfähigkeit kümmern wie hierzulande. Es ist schon erstaunlich: Nirgendwo spielen die Waren- und Kapitalströme und Wanderungsbewegungen eine geringere Rolle in der Debatte - und eine größere in der Ökonomie. Die Deutschen reden so, als bewohnten sie eine Insel weit draußen im Atlantik, obwohl beispielsweise Rumänien ein Drittel seines Nationalprodukts nach Deutschland ausführt, obwohl der deutsche Handelsbilanzüberschuss zuletzt acht Prozent des Bruttoinlandsprodukts betrug. Die Formel lautet: International handeln, national argumentieren.
Wie gesagt, gestern brachte Zeitfragen / Deutschlandradio Kultur mein Feature über die Krise der EU. Ich erzähle darin, wie und warum sich die Volkswirtschaften der europäischen Staaten auseinander entwickelt haben. Nun klaffen die nationalen Interessen zunehmend auseinander. Demnächst könnte das Schengen-Abkommen passé sein und wieder Grenzzäune errichtet werden. Der Konflikt eskaliert an der Verteilung der Flüchtlinge, aber das ist nicht die Ursache. Die Staaten an der südlichen und östlichen Peripherie haben vielmehr mit ihrer Weigerung, mehr Migranten aufzunehmen, ein Druckmittel gegen Deutschland in der Hand. Am Rande geht es in dem Feature auch um die Frage, worauf die Dominanz Deutschlands in Europa beruht. Ist die Bundesrepublik ein europäischer Hegemon? Eine "Führungsmacht"? Es gibt in Deutschland natürlich den ein oder anderen Funktionär oder Ideologen mit "Weltmachtambitionen", aber mir scheint die herrschende Klasse selbst zu gespalten (vielleicht auch einfach zu provinziell ...), um eine geopolitische Strategie umzusetzen. Einfluss in der internationalen Politik kann sie nur "mit Europa" ausüben. Sie muss Bündnisse eingehen - aber die gibt es nicht umsonst! Deutschland müsste die Euro-Länder nicht nur politisch und ökonomisch dominieren, sondern politisch und ökonomisch integrieren. Tatsächlich ein gewagtes Unterfangen.
In der gegenwärtigen Krise jedenfalls "führt" Deutschland gerade nicht. Es verfolgt keinen Plan – jedenfalls keinen erkennbaren Plan – welche Gestalt die europäische Institutionen annehmen sollen. Statt ein Ziel vorzugeben, das für die anderen europäischen Mächte erstrebenswert und erreichbar wäre, versucht Deutschland lediglich, den gegenwärtigen Zustand möglichst lange zu erhalten (von dem es selbst am meisten hat). Aber der Kassensturz wird sich ewig aufschieben lassen. Keiner meiner Interviewpartner konnte sich vorstellen, dass die Eurozone in ihrer bisherigen Form und Zusammensetzung noch lange überleben kann.
Einige von ihnen, etwa der Politologe Herfried Münkler, bringen in dieser Situation das Kerneuropa-Konzept wieder in die Debatte. Die Eurozone würde sich sozusagen gesundschrumpfen. Deutschland hätte (wenn das funktioniert) einen privilegierten Zugang zu den Randstaaten, müsste aber nicht für sie aufkommen und deren (zunehmend nervende) Eliten befrieden. Allerdings knirscht gegenwärtig gerade die deutsch-französische Achse. Ein Kerneuropa ohne Frankreich? In seinem Buch Macht der Mitte - Die neuen Aufgaben Deutschlands in Europa überlegt Herfried Münkler:
Grundsätzlich gibt es für Frankreich noch die Alternative einer engeren Verbindung mit den Italienern (sowie den Spaniern), ein Projekt, mit dem der damalige Präsident Sarkozy unter dem Rubrum einer "Mittelmeerallianz" zeitweilig gespielt hat, das dann aber wegen der unterschiedlichen Interessen der Partner nicht voran gekommen ist. Frankreich wäre in einer solchen Allianz der Erste unter den Schwächeren. Ob das eine für Frankreich attraktive Position ist, nachdem man in der Achse Paris-Berlin einer der beiden Starken war, darf bezweifelt werden.Ob (beziehungsweise: wie lange) dieses Kalkül aufgeht, steht natürlich in den Sternen. Mein Tipp (wie immer ohne Gewähr): Wenn die Weltwirtschaft jetzt in eine Rezession rutscht und der deutsche Exportmotor zum Stillstand kommt, dann wird das europäische Staatenbündnis zerbrechen.