Nicht der Ton sei problematisch, sondern die Fälschung, heißt es. Das ist falsch, denn die Fälschungsanfälligkeit beginnt beim Ton. Beim hohen Ton, in dem allen Ernstes die Hybris vorgetragen wird, man könne die großen Linien der Zeitgeschichte mitunter auf vier „Spiegel“-Seiten zusammenziehen. Wer glaubt, die Gegenwart werde durch Geschichten („Stories“) über Menschen (den lügenden Reporter, den durch die Hölle gehenden Kollegen, die Ressortleitung, den Reporterhelden, der wahre Geschichten mitbringt, die noch dazu spannend sind – oder spannende, die noch dazu wahr sind?) ganz menschlich verständlich, für den hat Hans Magnus Enzensberger vor mehr als sechzig Jahren einen guten Text geschrieben. Die Form der Story, so der Befund von „Die Sprache des Spiegels“ 1957, verwandele alle Nachrichten „in ein pseudoästhetisches Gebilde, dessen Struktur nicht mehr von der Sache, sondern von einem sachfremden Gesetz diktiert ist.“ Nämlich von dem der Unterhaltung. Die Story, nicht die Nachricht, bedürfe eines Anfangs und eines Endes; die Story, nicht das Argument, bedarf einer Handlung und eines Helden. „Die Anekdote bestimmt die Struktur einer solchen Berichterstattung; die Historie wird zum Histörchen.“Man schreibt also nicht über Argumente, Ideen und Interessen, sondern über Menschen, die sie angeblich haben, und darüber, wie sie so sind, diese Menschen, wie sie aussehen und wie sie wohnen, wo man sie getroffen hat, wie gefährlich oder wenigstens exotisch es war, sie überhaupt zu treffen, und dass der Wind gegen die Kaimauer peitschte, als Glanz und Elend nachts im Zimmer Nr. soundso zusammenkamen.
Freitag, 28. Dezember 2018
Argumente brauchen keine Helden
Freitag, 21. Dezember 2018
Storytelling für Fortgeschrittene
Im Spiegel!?!
Jau. Im Spiegel. Zitat:
Die kruden Potpourris, die wie meisterhafte Reportagen aussahen, machten ihn zu einem der erfolgreichsten Journalisten dieser Jahre. Sie haben Claas Relotius vier Deutsche Reporterpreise eingetragen, den Peter Scholl-Latour-Preis, den Konrad-Duden-, den Kindernothilfe-, den Katholischen und den Coburger Medienpreis. Er wurde zum CNN-"Journalist of the Year" gekürt, er wurde geehrt mit dem Reemtsma Liberty Award, dem European Press Prize, er landete auf der Forbes-Liste der "30 under 30 - Europe: Media"Der Teufel scheißt auf den größten Haufen, sagt das Sprichwort. Für Journalismus-Preise und die Jurys, die sie verleihen, gilt es allemal. Das Magazin bemüht sich um Schadenbegrenzung, beginnt mit den Aufräumarbeiten und überprüft die Texte Relotius' (übrigens auch die Taz, für die er vor einigen Jahren schrieb). Der Spiegel will brutalstmöglich aufklären und berichtet selbst ausführlich und so detailliert über den Fall - so sehr, dass ich mich frage, ob der Spiegel nicht den Nachrichtenwert seiner schlampigen Arbeit noch ausschlachtet.
Stefan Niggemeier legt in seinem Kommentar den Finger in die Wunde, wenn er über den Leitartikel von Spiegel-Redakteur Ullrich Fichtner schreibt:
Sein Artikel kommt schonungslos daher, aber in Wahrheit ist er vor allem gegenüber dem Kollegen schonungslos. Was die eigene Rolle des Nachrichtenmagazins und seiner Kultur in dem Debakel angeht, ist er stellenweise erstaunlich selbstgerecht. Und die Art, wie Fichtner den Fall aufschreibt und daraus eine „Spiegel“-Geschichte macht, spricht dafür, dass er gar nicht erkannt hat, wie sehr gerade das Geschichten-Erzählen ein Problem in diesem Fall ist.Für die "gefährliche Kultur des Geschichtenerzählens", die Niggemeier kritisiert, sind Relotius' und Fichtners Arbeiten eindrucksvolle, aber eben extreme Beispiele. Claas Relotius hat es nur übertrieben mit dem Zurechtbiegen und Zuspitzen und Zusammensuchen. "Den Leser mitnehmen" und "Geschichten erzählen" sind, das kann ich bestätigen, zu journalistischen Kernkompetenzen geworden, sogar zur einer notwendigen Bedingung, um einen Beitrag veröffentlicht zu bekommen. Die Narrativierung der Berichterstattung beschränkt sich keineswegs auf die "Edelreportage", auf die sich die Kommentatoren gegenwärtig einschießen. Fast jeder Beitrag kommt heute mit szenischen und reportagehaften Elementen daher - der berühmte "atmosphärische Einstieg" zum Beispiel - ob es passt oder nicht, ob etwas erlebt wurde oder nicht. Ich habe schon Berichte von Archäologen-Kongressen gehört, in denen die Atmosphäre der Eingangshalle ausgemalt und die armen Wissenschaftler mit persönlichen Regungen versehen wurden ...
Um nicht missverstanden zu werden: was Claas Relotius getan hat, ist außergewöhnlich, unanständig und außergewöhnlich unanständig. Ein Thema anhand von Protagonisten und ihren Schicksalen zu präsentieren, als Geschichte zu erzählen, kann nützlich sein, weil es Interesse und Sympathien im Leser weckt. Hinter der Narrativierung steht ja gerade die Angst, dass bloße Fakten kein hinreichender Grund seien, einen Beitrag zu lesen. Die Geschichten sollen "den Leser mitnehmen". Dagegen wäre nichts zu sagen, wenn die Autoren nur wüssten, wohin sie den Leser mitnehmen wollen und warum sich die Reise lohnt.
Tatsächlich geben die preisgekrönten "meisterhaften Reportagen" Relotius' erstaunlich wenig her in Sachen Erkenntnisgewinn, scheint mir (ich kenne allerdings nur eine Handvoll.) Seine Protagonisten sind lebendig, weil phantaisievoll mit Details ausgestattet, aber letztlich doch Klischees. Der rechte Amerikaner ist beschränkt und stiernackig. Die Widerstandskämpferin eine eigensinnige, starke Persönlichkeit. Der aufständige Iraker ein bisschen deppert.
Nadim hat keinen dieser Verse vergessen. Er sitzt in seiner Zelle, er sagt sie nacheinander auf, wie schüchterne Kinder Gedichte aufsagen, zu Boden sehend, atemlos.Dass niemandem aufgefallen ist, wie sich in diesen Reportagen die Wirklichkeit widerspruchslos Vorurteilen fügt, spricht Bände.
Wer seine Protagonisten den Lesern nahe bringen will, muss sie zunächst selbst kennenlernen. Das dauert, klappt auch nicht immer, vielleicht will der Protagonist einfach nicht. Wie die deutsche-amerikanische Widerstandskämpferin Traute Lafrenz, die Relotius hartnäckig belästigte, schließlich zu einem Interview überredete, das laut Lafrenz und ihrer Tochter höchstens eine Stunde (!) dauerte, dann offenbar Relotius nicht lebendig und preiswürdig genug schien und ergänzt werden musste.
Der Protagonist ist nicht nur Objekt der Berichterstattung, er verfolgt eigene Ziele, wenn er mit dem Journalisten spricht. Manchmal entsteht eine interessante Beziehung zwischen den beiden. Die Reportage ist eine subjektive Form, der Journalist sammelt Eindrücke und erlebt etwas. Wenn er trotz der heutigen Arbeitsbedingungen dazu Zeit findet, erlebt er Dinge, mit denen er vorher nicht gerechnet hat. Er stößt auf Zwischentöne und Widersprüche. Das Leben schreibt allerhöchstens merkwürdige Geschichten.
Der Spiegel behandelt jetzt den Fall Relotius entsprechend der "Theorie vom faulen Apfel", ein moralisch verwerflicher Typ, von Eitelkeit oder Gier getrieben, ein Einzelfall, der mit den institutionellen Bedingungen nichts zu tun haben soll. Im Interview sagt Juan Moreno, der Spiegel-Autor, der den Fall ins Rollen brachte:
Er war eben der Starjournalist des deutschen Journalismus, wenn man ehrlich ist. Und wenn die Geschichten wahr wären, völlig zu recht.Nuff said.
Update: Kommentare mit ähnlicher Stoßrichtung sind erschienen im Freitag (Elsa Koester, "Sagen, was ist")
Relotius gab, was im Journalismus derzeit gewollt wird, was erfolgreich ist, und er gab es auch dann, wenn die Realität diese Story nicht mehr hergab. Was ist nun das Problem? Dass die Realität die Story nicht hergab – oder dass alle es so haben wollten, wie sie es sich ohnehin schon gedacht haben?und im Neuen Deutschland (Jürgen Amendt, "Aufschneiderei als Kerngeschäft")Der Spiegel hätte von Relotius etwas lernen können. Darüber, dass ein Journalismus, der nur nach Storys sucht, blind zu werden droht gegenüber einer Wirklichkeit, die kompliziert, widersprüchlich und – zum Glück – immer wieder überraschend ist. Anders, als man denkt.
Die im vergangenen Jahr erschienene Geschichte über den US-Football-Star Colin Kaepernick, der aus Protest gegen den Rassismus in den USA beim Abspielen der Nationalhymne niederkniete und deshalb von US-Präsident Trump angefeindet wurde, sei von Relotius »in weiten Teilen ausgedacht«, schreibt Fichtner. Statt »beharrlich an Zugängen zu arbeiten, träumt er sich hinein in Räume, die ihm verschlossen bleiben, in Turnhallen, zu denen er keinen Zugang bekommt, auch in Telefonate mit Kaepernicks Eltern. Die Einstiegsszene der Geschichte ist so geschrieben, als hätte Relotius in der ersten Reihe gesessen, aber er war gar nicht da.« Fichtner schreibt das und merkt offenbar gar nicht, dass dieser Befund auch auf ihn zutrifft!
Dienstag, 18. Dezember 2018
Fun fact # 33: Künstliche Intelligenz
Ein Drittel der Artikel beruht auf Presseerklärungen und Zitaten aus der IT-Industrie. Sie kommen sechs Mal so oft vor wie Regierungsquellen und doppelt so oft wie Quellen aus der Wissenschaft.
Montag, 3. Dezember 2018
Weltweit wächst der KI-Nationalismus - was macht die Bundesrepublik?
Für Telepolis habe ich einiges über die "Nationale Strategie Künstliche Intelligenz" zusammengetragen, die die Bundesregierung morgen verabschieden wird. Dass sie das im Rahmen des halböffentlichen "Digitalgipfels" tut, soll klar machen: Das ist Chefsache (beziehungsweise Chefin-Sache). Aber was wollen wir eigentlich mit der KI anfangen?
Mein Fazit, vorweg:
Weil sich die handels- und geopolitischen Spannungen verschärfen, fragmentiert der Weltmarkt für Digitaltechnik. Gerade im Bereich der Künstlichen Intelligenz hat ein neues technologisches Wettrüsten begonnen. Mit ihrer "Nationalen KI-Strategie" will die Bundesregierungen an die Weltspitze - ohne industriepolitisches Konzept, ohne Europa und ohne Rücksicht auf die gesellschaftlichen Folgen.
Teil 1: Globaler Wettlauf um die schlauesten Algorithmen
Teil 2: Die entscheidenden Fragen tauchen in der "Nationalen KI-Strategie" nicht auf
Fun fact # 32: Meinungsfreiheit
Social Media Intelligence für die Polizei
Mein Text beginnt mit einem bemerkenswerten Startup aus Wien namens Prewave.
„Künstliche Intelligenz trifft Risikoanalyse!“ So wirbt das Wiener Unternehmen Prewave für seine Dienstleistungen, darunter die Streik-Vorhersage anhand von Daten aus den Sozialen Medien. „Ein Streik kann definiert werden als eine geplante Aktion von Beschäftigten oder Gewerkschaften um die Arbeit anzuhalten oder zu verlangsamen“, heißt es in einem wissenschaftlichen Beitrag der Prewave-Gründerin Lisa Madlberger von 2016. Aber: „Schäden können durch rechtzeitige und effiziente Reaktion verringert werden. Allerdings geht oft wertvolle Zeit verloren, weil die Unternehmen zu spät von einem Streik bei ihren Zuliefern oder Transporteuren erfahren.“ Dagegen soll Prewave helfen, indem die Sozialen Medien in Regionen von Interesse systematisch ausgewertet werden, um sich anbahnende Arbeitsniederlegungen zu erkennen. Den Zulieferer zu wechseln, ist übrigens eine gängige Maßnahmen im Supply Change Management. Laut eigenen Angaben gehören zu den Auftraggebern der Firma „große Automobilhersteller, Banken, Logistikkonzerne und Reedereien“.Ein Blogger-Kollege von Netzpolitik hat sich übrigens bereits im September mit dieser Firma beschäftigt. Noch mal übrigens: das Startup wurde mit Steuergeldern gefördert. Streiks ins Leere laufen lassen hat mit polizeilichen Ermittlungen natürlich zunächst wenig zu tun. Aber das Beispiel Prewave zeigt eindrücklich, was Social Media Intelligence im Kern ausmacht: Massendaten aus der Internetkommunkation werden algoritmisch gefiltert und die gefundenen Muster mit statistischen Methoden in die Zukunft verlängert.Funktioniert so etwas? Vielleicht. Die Prewave-Algorithmen durchforsten Twitter, Facebook oder andere Plattformen. Zunächst werden die Texte sozusagen bereinigt, um sie im nächsten maschinell auszuwerten. Aus den Tweets oder Posts werden die Merkmale „Ort“, „Zeitpunkt“ und „Person / Organisation“ extrahiert. Weil es Prewave um die Streik-Vorhersage geht, schließt Person / Organisation in diesem Fall auch Berufsgruppen wie „Taxifahrer“ oder „Hafenarbeiter“ ein. Mit den festgestellten Häufigkeiten dieser Merkmale werden dann Prognosen erstellt.