Ich habe mich mit diesem Stück sehr schwer getan, viel geschrieben und wieder verworfen, noch mehr als üblich. Das lag daran, dass der Begriff der Freiheit in „Forschungsfreiheit“ in vielen Farben schillert. Bin ich überhaupt für die Freiheit der Wissenschaft? Da muss ich lange nachdenken und komme schließlich zu einem entschiedenen „Das kommt darauf an“.
Der englische Kulturkritiker Matthew Arnold fasste das Problem einmal mit dem schönen Satz, die Freiheit sei ein gutes Pferd, aber nur, wenn man wisse, wohin man reiten will. Er meinte damit, dass die Anrufung von Freiheit immer dann ideologisch und fruchtlos wird, wenn nicht zugleich über Zwecke gesprochen wird – wozu die Freiheit eigentlich dienen soll.
Isaiah Berlin formuliert die nützliche Unterscheidung zwischen positiver und negativer Freiheit, der Freiheit von äußerem Zwang und der Freiheit zu tatsächlichem Handeln. Die negative Freiheit der Wissenschaft ist ein liberales Abwehrrecht:
Sie berechtigt zur Rücksichtslosigkeit: Bei ihrer Suche nach Erkenntnis müssen Forschende sich nicht um religiöse Gefühle oder Weltanschauungen kümmern. Kein Pfarrer oder Imam, kein Präsident oder Parteivorsitzender darf ihnen den Mund verbieten. Sie sind der Wahrheit verpflichtet. Sonst niemandem.Klingt gut. Allerdings handelt es sich bei den „Trägern der Wissenschaftsfreiheit“ (um es im Verfassungssprech auszudrücken) längst nicht mehr um reiche Privatgelehrte wie Charles Darwin oder Alexander von Humboldt, die ihren Interessen folgen konnten, wo immer die hinführten. Wissenschaft wird heutzutage zu einem großen Teil von Lohnabhängigen betrieben, Angestellten im Wissenschaftsbetrieb. Arbeitsverhältnisse und Verdienst unterscheiden sich sehr, an der Spitze können spezialisierte Wissenschaftler selbst zu Unternehmern werden. Insgesamt aber geht die Entwicklung hin zur abhängigen beziehungsweise scheinselbständigen Beschäftigung.
Wissenschaft ist keine Angelegenheit von Eliten mehr. Die Suche nach Erkenntnis war schon immer kollektiv, aber heute vollzieht sie sich in einer Arbeitsteilung, die sich immer weiter ausdifferenziert, und sie wird von so vielen Menschen wie nie zuvor betrieben.
Wissenschaft ist institutionalisiert und wird hauptsächlich vom Staat finanziert. Ihre Freiheit (im emphatischen Sinn) ist aus diesem Grund gefährdeter als früher. Regierungen können in der Regel einfach die finanzielle Förderung einstellen, ausdrückliche Verbote und Zensur sind gar nicht notwendig.
Kurz gesagt, die wissenschaftliche Praxis ist heute finanziell abhängig und instituionell eingebunden. Was bedeutet unter diesen Umständen positive Wissenschaftsfreiheit? Ich glaube, sie hat einen praktischen Kern, der über Normen und Traditionen hinausgeht, nämlich: Wissenschaft gibt sich ihre Gesetze selbst. Sie beurteilt ihre Leistungen, vor allem durch den peer review, die Begutachtung durch Gleichrangige. Anders wäre das auch gar nicht möglich, schließlich handelt es sich um spezialisiertes Wissen, das Laien und Fachfremde nicht verstehen würden. Wissenschaft entscheidet zudem selbst, was als relevanter wissenschaftlicher Beitrag zählt und was nicht (dies übrigens vielfach ungerecht und falsch, wie sich dann einige Jahrzehnte, manchmal Jahrhunderte später herausstellt). Kurz, allein Wissenschaft definiert, was (gute) Wissenschaft bedeutet.
Diese "Eigengesetzlichkeit" ist meiner Ansicht nach der eigentliche, der materialistische Kern der Autonomie der Wissenschaft gegenüber dem "System Politik" und dem "System Wirtschaft". In den bürgerlichen Gesellschaften bis zu den Weltkriegen im 20 Jahrhundert sah die Aufgaben- und Machtteilung vor, dass die Wissenschaft sich selbst regiert und Staat und Kapital die Früchte ernten. Seitdem sehen wir aber (zumindest in der anwendungsorientierten Forschung) ein zunehmende Verstaatlichung im Sinne von Instrumentalisierung und Lenkung.
Dieser säkulare Trend endete gerade nicht mit dem Keynesianismus, sondern setzt sich bis heute fort. Dass die praktische Freiheit der Wissenschaft im Neoliberalismus nicht zu-, sondern abnahm, wird verdeckt durch die besondere Art der Lenkung, für die Staat und Kapital die Instrumente des New Public Management einsetzen: die Zielvorgabe, die strafbewehrte Kennzahl, das prekäre Beschäftigungsverhältnis und die Freiberuflichkeit. Zugespitzt gesagt, die Autonomie der Wissenschaft im Neoliberalismus ist eine gelenkte Autonomie, eine "verantwortliche Autonomie" (um den industriesoziologischen Ausdruck zu verwenden). Der Wissenschaft wird nicht vorgegeben, wie sie ihre Ziele erreicht, aber durchaus, welche Ziele. Sie sucht sich aus, wie sie dient. Nicht ob.
So wenigstens funktionierte die Arbeitsteilung zwischen Politik und Wissenschaft in den liberalen Gesellschaften. Nun drängen autoritäre und nationalistische Kräfte an die Macht, die sich nicht mehr an die Spielregeln halten. Politiker haben immer ein instrumentelles Verhältnis zur "wissenschaftlichen Wahrheit" gehabt, sie nutzen sie wahlweise als Argumentationshilfe (wenn es schnell gehen muss) oder als Verzögerungstaktik (wenn sich nichts ändern soll, in der Art „Das werden wir wissenschaftlich untersuchen lassen und in fünf Jahren die Studienergebnisse sorgfältig prüfen ...“). Trump, Erdogan, Orban und all die anderen sind ein anderes Kaliber. Sie greifen die Definitionsmacht der Wissenschaft an, was als Fakt zu gelten hat und was nicht. Das ist tatsächlich brandgefährlich.
Deshalb bin ich solidarisch mit allen, die die Freiheit der Wissenschaft gegen Übergriffe durch Regierungspolitiker, Bürokraten oder den Mob verteidigen, auch solidarisch mit dem March for Science. Nur gehört meiner bescheidenen Meinung nach zur Verteidigung der Wissenschaft eben auch, vor der eigenen Tür zu kehren. Sich über Impfgegner, Homöpathen und Verschwörungstheoretiker lustig zu machen, ist zu billig. Gerade Wissenschaftler müssen die Fehlentwicklungen im System und ihre Ursachen schonungslos benennen, um der Desinformation und Propaganda, manchmal auch einfach dem Aberglauben und Wunschdenken keine Angriffsfläche zu bieten. Und so möchte ich auch mein Feature verstanden wissen:
Fragwürdige Qualitätsstandards, der Einfluss von Kapitalinteressen, prekäre Arbeitsverhältnisse – Probleme in der Forschung gibt es reichlich. Sie zu lösen wäre das einfachste und wirksamste Mittel gegen die grassierende Wissenschaftsskepsis.