Dienstag, 6. Juni 2023

China als Projektionsfläche

Über China und die chinesische Digitalisierung wird hierzulande immer schablonenhafter und dämonisierender berichtet. Der Huawei-Konzern wurde seit 2018 erfolgreich aus dem "westlichen" Mobilfunkmarkt gedrängt. Seitdem betreiben Europa und die Vereinigten Staaten Wirtschafts- und Geopolitik mit dem Argument, es ginge um die Verhinderung von Spionage und Cybersabotage. Ein entleerter Begriff von "nationalen Sicherheit" wird beliebig eingesetzt, aber das scheint niemanden zu stören, solange es um China geht. Lediglich ein paar IT-Sicherheits-Nerds kratzen sich am Kopf und wundern sich, wie genau Kameras und Funkmodule aus chinesischer Herstellung eigentlich die Sicherheit in England, Australien oder Österreich kompromittieren sollen.

Da tut es gut, "Blockchain Hühnerfarm" von Xiaowei Wang zu lesen. Für die Sendung Andruck beim Deutschlandfunk habe ich es besprochen. Die Autorin beschreibt die Digitalisierung in China, ein Prozess, bei dem technische Innovation und soziale Widersprüche zusammenspielen.

Um herauszufinden, wie die Landbevölkerung sich Digitaltechnik aneignet, ist sie in abgelegenste Dörfer gereist. Biographisch bringt die US-amerikanische Autorin ideale Voraussetzungen für diese Recherche mit: Ihre Eltern stammen aus China, sie spricht die Sprache, Familienangehörige verschaffen ihr Einblicke in den Alltag. Und als ehemalige Programmiererin lässt sie sich vom Jargon der IT-Branche nicht blenden.

Die Reportagen fügen sich wie ein Mosaik zu einem Bild der chinesischen Gesellschaft zusammen, wobei das schwierige Verhältnis von Stadt und Land im Vordergrund steht. Digitale Technologien werden rasant, oft auch auf unvorhergesehene Art adaptiert. Online-Handelsplattformen durchdringen Arbeit und Konsum. Für viele Landbewohner bedeutet die Entwicklung den Ruin, einige machen Karriere, zum Beispiel als Drohnen-Piloten.

Wertvoll macht "Blockchain Hühnerfarm", dass sich die Autorin einer nationalistischen Perspektive konsequent verweigert. Sie beschreibt das politische System als "fragmentierten Autoritarismus". Durch Künstliche Intelligenz und die maschinelle Lesbarkeit nahezu aller Lebensbereiche ergeben sich Potentiale für die Bevölkerungskontrolle und Unterdrückung. Diese Potentiale sind aber keineswegs auf China beschränkt. Dies wird zum Beispiel deutlich, als Xiaowei Wang ein IT-Unternehmen in Peking besucht, das Kamerasysteme für die Gesichtserkennung vertreibt.

Das Überwachungssystem der Regierung mit dem völlig ernst gemeinten Namen Skynet wird im Showroom ebenfalls präsentiert. Megvii / Face + + hat Investoren weltweit, von Südkorea über Russland bis Abu Dhabi. Die technischen Führungskräfte sind mannigfach international ausgebildet. Bei meinen Besuchen dort erwähnten etliche Mitarbeiter, mit denen ich ins Gespräch kam, nebenbei ihre Zeit in den USA oder ihre Arbeit beim Wall Street Journal. (…) Das Ganze erinnerte mich nicht bloß an Silicon Valley, es war Silicon Valley.
So steht das Unternehmen beispielhaft für den Zitat „globalen Charakter der Überwachungsindustrie“. Diese Software wird übrigens nicht nur von Polizeibehörden genutzt, sondern auch in Apps, um Selfies zu verschönern. Xiaowei Wang betont, dass Technologiekonzerne weltweit mit autoritären Regierungen kollaborieren.

„Blockchain Hühnerfarm“ zu lesen ist insofern unheimlich, im Sinne von Sigmund Freud: Das Befremdliche und Beängstigende, was sie uns präsentiert, ist in Wirklichkeit zu vertraut.