Wie greifen bei Krankheit Seele und Geist ineinander? Als ich mich vor einer Weile mit
Depressionen und dem Placebo-Effekt beschäftigte, stieß ich auf das merkwürdige Phänomen, dass die Kranken selbst ihrem Leiden eine körperliche Gestalt geben möchten (und reichlich
beleidigt auf meine Behauptungen reagierten). Es ist nicht nur der wissenschaftlich-medizinische Komplex, der Depression zur „genetisch verursachten“ Krankheit machen will. Viele der Depressiven
wollen glauben, dass ihr Leiden das Ergebnis eines „gestörten Hirnstoffwechsels“ ist - das dann eben mit der Gabe entsprechender Substanzen (vor allem Serotoninwiederaufnahmehemmer) korrigiert werden kann.
Gestern habe ich die
ausgezeichnete Sendung (PDF) von Horst Gross über „Umweltmedizin in der Krise“ gehört. Gross liefert eine Menge Beispiele für diese Art der Selbst-Pathologisierung, und das beste ist: Er weist zwar entschieden und kenntnisreich auf die seelischen Ursachen vieler Erkrankungen hin, aber er stellt die Betroffenen nicht als Simulanten dar.
Dennoch: Viele Krankheiten, die angeblich durch Umweltgifte verursacht werden – zum Beispiel das „aero-toxische“ oder das „Sick-Building-Syndroms“ und die „multiple Chemikaliensensitivität“ -, haben in Wirklichkeit seelische und soziale Ursachen.
Umweltkrank ohne Umweltursache? Geht das? Es klingt paradox, aber immer häufiger wird die Umweltmedizin mit dem Phänomen konfrontiert, dass Umweltkrankheiten nur als solche empfunden werden. Der Patient glaubt felsenfest an die Umweltursache, etwa einen bestimmten Schadstoff. Die Wissenschaft kann keinen Zusammenhang herstellen.
Horst Gross zitiert den Umweltmediziner Andreas Wiesmüller über Gesundheitsschäden durch Bürogebäude:
Bei den Messwerten die Raumluft, wo die Räume klimatisiert wurden, waren die Messwerte deutlich besser, als da wo ich das Fenster aufmachen konnte, zum Teil. Und was man festgestellt hat ist, dass aber die Leute, die sich in den klimatisierten Gebäuden aufhalten, mehr an dieser am Anfang genannten Befindlichkeitsstörungen litten. Es scheint hier so eine Akzeptanzfrage eine Rolle zu spielen. Und dass eben das Betriebsklima eine Rolle spielt. Also das Miteinander, das Verhältnis zwischen Untergegebenen und Vorgesetzten, Gestaltung, richtige ergonomische Gestaltung des Arbeitsplatzes und sicherlich auch einige Dinge, die man selber mitbringt, wie zum Beispiel Allergien.
Gross berichtet auch von einer Studie des Robert–Koch–Instituts von 2005 über umweltmedizinische Ambulanzen, bei der herauskam,
dass nur bei einem Prozent der Hilfesuchenden ein nachweisbares Umweltproblem vorlag. Bei 80 Prozent fanden sich dagegen psychische Probleme, die eventuell im Zusammenhang mit den Beschwerden standen.
Mediziner und Kranke finden sich im Fall der Umweltmedizin in der seltsamen Situation, dass erstere auf die psychosozialen Ursachen hinweisen, von denen letztere nichts hören wollen. Die Kranken beharren auf einer organischen Ursache. So hat sich eine regelrechte Subkultur von Selbsthilfegruppen und Umweltmedizinern mit obskurantistischen Zügen entwickelt.
In den späten 60er Jahren erklärten manche Linke die Krankheit zur Waffe, zum Widerstand gegen die Vernutzung unseres Lebens, dem nur das Bewusstsein seiner selbst fehlt, um zur Revolte zu werden. Das Sozialistische Patientenkollektiv definierte Krankheit dialektisch "als Protest und Hemmung des Protests". Heute ist Erkrankung der individualisierende Rückzug aus der "Leistungsgesellschaft", um schuldlos den Anforderungen nicht zu genügen.