Meine erste Reaktion auf die Nachricht war: Ach.
Die zweite, eingespielte: So alt war der doch noch gar nicht!
Das denke ich jetzt nämlich immer öfter, wenn Menschen des öffentlichen Lebens sterben, die mich durchs Leben begleitet haben. Die dritte oder vierte Schallplatte meines Lebens, ganz genau weiß ich's nicht mehr, war von Velvet Underground. Meine jüngeren Freunde sagen mir, 71 Jahre sei doch ganz in Ordnung. Aber mit zunehmendem Alter, will sagen: mit abnehmendem Abstand zum Tod, denke ich: Ein paar Jahre hätten doch noch drin sein müssen ... Ganz unabhängig von der Jahreszahl am Anfang des jeweiligen Nachrufs
Reed hätte ich ein ganz langes happy end gewünscht. Seit seiner Platte "New York" von 1989 habe ich seine Veröffentlichungen nicht mehr verfolgt. Diese Wedekind-Adaption zusammen mit Metallica - mit Metallica, warum denn das um Himmels Willen! - fand ich krude und nichtssagend. Aber viele seine Lieder haben mich geprägt. Nun ist er tot.
Warum schreibe ich das alles? Weil ich aus diesen biographischen Gründen nicht an den zahlreichen Nachrufen für Lou Reed in der deutschen Presse vorbeikam. Der von Thomas Gross in der Zeit von dieser Woche hat es sogar auf Seite 1 geschafft. Und unvermeidlich geht es um die erfolgreichste Single von Reed, um Walk on the wild side, mithin um
Holly aus Miami, die im Schutz der Nacht zur Frau wird, Candy, die es in den Hinterzimmern mit allen treibt, Little Joe, dem kleinen ZuhälterAn dieser Stelle im Text, wie soll ich sagen, also: ich konnte nicht umhin zu bemerken, dass Pop-Expertentum nicht vor sachlichen Fehlern schützt. Der in dem Stück erwähnte Little Joe ist nämlich gar kein Zuhälter, sondern ein Prostituierter. Es geht um Joe Dallesandro, go figure, einen der vielen "Schauspieler" aus der Wahrhol-Crowd.
Ist doch egal? Ist halt ein Klischee, der "kleine Zuhälter", schreibt sich schnell hin. Ist es wichtig, welche reale Person Lou Reed zu seinem Stück inspiriert haben? Vielleicht nicht, wenn es auch einen gewissen Unterschied macht, ob in der New Yorker Bohéme, in der Reed damals verkehrte, Zuhälter geduldet wurden oder nicht.
Wichtiger als solche Flüchtigkeitsfehler ist etwas anderes. Nachrufer Gross hebt ab auf Reeds "seltene Radikalität", die sich in Liedern wie "Heroin" ausdrückt.
Die berühmte Zeile "Ich habe eine wichtige Entscheidung getroffen: Ich werde versuchen, mein Leben auszulöschen" ... beschreibt einen Klassenverrat: Lewis Allan Reed, Sohn einer jüdisch-mittelständischen Familie aus Long Island, streift die Fesseln seiner Herkunft ab und begibt sich in den Sumpf der Großstadt.Da wenigstens ist was dran. Und wie Reed kamen Hunderte, Tausende. Diese Klassenverräter fielen nicht vom Bürgertum ab, um auf irgendeine Art zur Arbeiterklasse zu stoßen. Sie bildeten überhaupt nur einen flüchtigen Zusammenhalt. Sie kamen aus ganz unterschiedlichen Klassen und Milieus, Reed aus dem Kleinbürgertum, Edie Sedgewick aus dem Geldadel, dazwischen Hustler, Kleinkriminelle, Drogenhändler und Prostituierte von der Straße wie Valerie Solanas
Gauner, Gaukler, Tagediebe, Taschendiebe, Lastträger, Literaten, Orgeldreher, Lumpensammler, kurz, die ganze unbestimmte, aufgelöste, hin- und hergeworfene Masse, die die Franzosen la bohème nennen ... dieser Auswurf, Abfall, Abhub aller KlassenKinder armer und Kinder reicher Eltern, aber vereint in ihrem Lebenstrieb und ihrer Todessehnsucht. Für sie gab es keinen Platz in der damaligen bürgerlichen Gesellschaft und sie gingen nach New York. Und es ist bezeichnend, dass aus unserer heutigen Sicht von ihrer Radikalität, die alle Brücken hinter sich abreißen wollte (eine zugegebenermaßen oft ziellose und selbstzerstörerische Radikalität), nichts geblieben zu sein scheint ist als "schlechte Laune" (Gross).
Jetzt werden wir ohne ihn schlecht gelaunt sein müssen.
Laurie Anderson hat jetzt in einer Lokalzeitung einen bewegenden Text zum Tod ihres Ehemanns veröffentlicht. Überschrieben ist er mit "An unsere Nachbarn", aber ihr dürft ihn bestimmt trotzdem lesen.