Mittwoch, 7. Januar 2015

"Gesellschaftskritik, die sich nicht in Reformschlingen verheddert"

Der Sozialwissenschaftler Arnold Schmieder hat die bisher gründlichste und interessanteste Rezension von „Mythos Vorbeugung“ verfasst - zu finden auf Socialnet - und mich damit glücklich gemacht. Klänge es nicht so pathetisch, würde ich laut rufen:

"All die Mühen, die tränenden Augen und die Rückenschmerzen von der ganzen Internetrecherche, die hohen Ausgaben für Kaffee und Kaugummi und die ausbleibenden Einkünfte - sie haben sich gelohnt!"

Denn Schmieder fasst nicht nur meine Argumentation klar und vollständig zusammen, sondern er denkt auch die Probleme weiter, die ich im Rahmen eines populären Sachbuchs nicht ausführen konnte und die daher nur unter der Text-Oberfläche behandelt werden. Sein schmeichelhaftes Fazit:
Ein Weiterdenken auf Gesellschaftskritik, die sich nicht in Reformschlingen verheddert, regt er an. Nicht nur damit legt er ein Buch vor, das in universitären Seminaren, die mit dieser Thematik befasst sind, einen prominenten Stellenwert für die Diskussion einnehmen dürfte und sollte, sondern die Lektüre wird für all diejenigen gewinnbringend sein, die in Bezug auf die sie entfallenden Präventionsgebote ein "feines Gespür" dafür haben, "ob ihre Meinung lediglich gefragt ist oder entscheidet" – und die sich eine ausgewogene und abwägende Meinung bilden wollen, die zu wissensgesättigten Entscheidungen befähigt und berechtigt.
Besonders interessant sind Schmieders Anmerkungen zum Schlaf und seiner gesellschaftlichen Regulation.
In "Mythos Vorbeugung" dient mir das Beispiel "Schlafen" dazu, gleich mehrere Merkmale der gesundheitlichen Vorbeugung zu illustrieren. Zunächst - das ist banal, aber wesentlich! - interessiert sich die staatlich moderierte Vorbeugung kaum für dieses Feld, obwohl es physiologisch entscheidend ist. So belege ich, dass die Vorbeugung keineswegs "objektiv" vorgeht, dass sie nämlich äußerst schädliche Einflüsse keinen Deut interessieren, sofern sich diese nicht in das Schema "Eigenverantwortung versus Disziplinlosigkeit" pressen lassen.

In einem längeren geschichtlichen Bogen seit Ende des 18. Jahrhunderts skizziere ich, wie das Bedürfnis nach Abwertung und Disziplinierung der unteren Klassen das Reden und Denken über den Schlaf bis heute prägen. Denn übermäßiger Schlaf spielte bei den Aufklärern wie Kant und Sozialmedizinern die gleiche Rolle wie heute die Völlerei: "Zu lange schlafen macht träge, dumm und krank!" Kurz, bürgerliche Moral und Gesundheitserziehung gehen bis heute Hand in Hand.

Hier hakt Arnold Schmieder kritisch ein, unter anderem mit Verweis auf Norbert Elias:
Natürlich gehört es zu den ideologischen Versatzstücken der bürgerlichen Gesellschaft, dass lange zu schlafen dumm macht, träge und ungesund ist … was sich "neben der bewussten Selbstkontrolle" in einer "automatisch und blind arbeitende(n) Selbstkontrollapparatur verfestigt, die durch einen Zaun von schweren Ängsten Verstöße gegen das gesellschaftsübliche Verhalten zu verhindern sucht, die aber, gerade weil sie gewohnheitsmäßig und blind funktioniert, auf Umwegen oft genug solche Verstöße gegen die gesellschaftliche Realität herbeiführt."
Die Beherrschung der inneren Natur, unsere "Selbstführung", ist, soweit gehe ich gerne mit, gesundheitlich nicht unbedingt effizient. Sie ist, um mit Alfred Schmidt zu sprechen, unbeherrschte Naturbeherrschung. Aber immerhin ist die Entwicklung der Diätetik doch mit dem Gebrauchswert der Medizin gebunden. Deshalb bemühe ich mich im Buch auch, die Schlafregulation - die gesellschaftlichen Formen, die dieses Naturbedürfnis annimmt - nicht in einer unhistorischen und beliebigen Diskurskritik aufzulösen. "Ist doch alles nur Konstruktion … ", man kennt das bis zum Überdruss et ultra. Ich versuche sie stattdessen materialistisch zu erklären - na ja, angemessen bescheiden gesagt: sie einzuordnen - und zwar aus dem Fortschritt des medizinischen Erkenntnis und den Anforderungen der Produktion. All das prägt unser individuelles Körperbild und unsere Diätetik, unsere Lebensführung.

Schmieder erklärt weiterhin, dass Kants Forderung nach einer inneren Vernunftherrschaft und Selbstbeherrschung gerade nicht auf den individuellen Nutzen abstellt, sondern auf eine Lebensführung, die dem Menschen angemessen ist, und auf ethische Pflichten, die über die tatsächlich gegebene bürgerliche Gesellschaft weit hinausweisen. (Ich verkürze hier sehr.)
So gesehen ist zum Beispiel die Kantsche Philosophie nicht schlicht als Beleg eines sich durchsetzenden Desiderats an Selbstdisziplin für den Berufsmenschen zu sehen, sondern eher als Kritik zu lesen und Hinweis darauf, was jenseits seinem "Zeitalter der Aufklärung" in einem "aufgeklärten Zeitalter" sein soll.
Jetzt ist es ein gutes halbes Jahr her, dass ich das Manuskript aus der Hand gegeben habe, und ich sehe etwas klarer: Die gesundheitliche Prävention ist Teil der Bevölkerungspolitik, deren Ziel die Reproduktion der Arbeitskraft ist. Wie weit das bedeutet, dass sie auch Menschen und ein menschenwürdiges Leben gewährleistet, das ist eine andere Frage und politisch umstritten.

Die Logik der neoliberalen Responsibilisierung bedeutet, kurz gefasst: Wir sollen nicht nur die eigene Produktivität und körperliche Reproduktivität bei der Arbeit verbrauchen, sondern diese Produktivität durch gesundes Verhalten herstellen. Wir sollen die Verschlechterung unserer Lebensbedingungen ausgleichen. Wir sollen am eigenen Körper, Geist und Seele arbeiten, um arbeiten zu können.

Im Milieu der deutschen kritischen Gesundheitsexperten und -wissenschaftler werden "Verhalten" und "Verhältnisse" oft unvermittelt einander gegenübergestellt: Das eine sei gut, das andere abzulehnen. Meiner Meinung ist dieser Gegensatz sowohl sachlich falsch als auch politisch unhaltbar. Wo soll staatliche Gesundheitsförderung ansetzen? Natürlich, sie soll den Armen und Kranken nützen, sie mit ihren Appellen nicht noch verhöhnen oder zu willensschwachen Subjekten erklären. Aber nicht alles, was Verhältnisprävention heißt, nutzt ihnen andererseits wirklich. Verhältnisprävention sind auch Rauchverbote im öffentlichen Raum - das geht meinethalben in Ordnung - oder die Besteuerung von Genussmitteln - das nicht, weil sozial höchst ungerecht. Letztlich muss jede wirksame Intervention darauf abzielen, Verhalten zu ändern - aber wie um Himmels Willen, was bedeutet das konkret? Die Herausforderung für eine fortschrittliche Gesundheitspolitik besteht darin, die neoliberale Responsibilisierung zu bekämpfen und gleichzeitig und ebenso entschieden die Kranken und potenziell Kranken - also alle! - nicht nur in eine Opferrolle zu drängen.

Als Handlungsmaxime kann der Begriff "soziale Infrastruktur" dienen, die gesellschaftliche Ungleichheit abbaut, weil sie allen gleichermaßen zur Verfügung steht. Sie individualisiert nicht, sondern vergesellschaftet. Sie stellt zur Verfügung, sie ermöglicht. Die Feinsteuerung des Verhaltens müssen uns dann nicht so sehr interessieren (auch wenn wir ohne Pflichten nicht auskommen werden). Wenn es ihre Lebensumstände erlauben, werden die Menschen selbst entscheiden, was sie für gesund halten.