Dienstag, 13. Januar 2015

Je suis Charlie – mais qui est-ce?

Wer in diesen Tagen so unvorsichtig ist, Radio, Fernsehen oder Internet zu nutzen, merkt: Jetzt soll die Zeit der Verbrüderung sein. Wir alle sind "Charlie", der Sarkozy, vielleicht sogar Le Pen, die Merkel, ich und meine Tante.

Ich habe mich lange Zeit in der Debatte über den Islamismus recht weit aus dem Fenster gelehnt. Ich bin immer noch überzeugt: Es gibt nur wenige Salafisten unter den Muslimen (wie immer wir diese Gruppe definieren wollen). Es gibt noch weniger jihadistische Salafisten. Einer Reformation und Säkularisierung in der muslimischen Welt und der muslimischen Diaspora stehen zwar besondere Hindernisse entgegen, theologische, aber auch Rassismus und Marginalisierung. Aber dies sind überwindbare Hindernisse, tatsächlich hat eine Säkularisierung längst begonnen, auch wenn islamistische Parteien in einigen Ländern an die Regierung gekomen sind.

Jetzt höre ich die Kommentare zu den Anschlägen in Frankreich - und wundere mich, wie unpolitisch, wie psychologisierend und naiv über die Täter geredet wird, wie verharmlosend das alles auf einmal klingt.

Ich bin kein Fan von Slavoj Žižek, auch kein Anhänger, nicht mal ein Sympathisant. Dazu ist mir zu kokett, wie er Lacan und Lenin vermischt. Immerhin hat er keine Angst, unangenehme Wahrheiten auszusprechen, und er tut es auch im New Statesmen.
The attack on Charlie Hebdo was not a mere “passing accident of horror”. It followed a precise religious and political agenda and was as such clearly part of a much larger pattern. Of course we should not overreact, if by this is meant succumbing to blind Islamophobia – but we should ruthlessly analyse this pattern.
Žižek geht mit dem Multikulturalismus hart ins Gericht, der lediglich "repressiv tolerant" ist, der Unterschiede nur aus Desinteresse erträgt. Er entlarvt die (Selbst-)Stilisierung der Jihadisten als entschlossen, überzeugt, leidenschaftlich und von einer transzendenten Wahrheit beseelt ("Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod". wir haben das schon oft gehört ...). Vor allem aber analysiert er sie als eine politische Bewegung, die sich gegen den Liberalismus richtet. Die Jihadisten sind abgestoßen von der leeren Toleranz für "verschiedene Lebensentwürfe", solange diese nur auf dem Markt zu haben und bezahlbar sind. Sie sind gegen die bürgerliche Gleichheit.

Das ist nicht verrückt, sondern eine politisch-religiöse Programmatik, die umso attraktiver wird, je weniger die bürgerliche Gesellschaft materiell, ästhetisch und ethisch anzubieten hat. Zynisch gesagt, das hat Zukunft. Zynisch und genauer gesagt: das hat umso mehr Zukunft, je weniger Zukunft das gegenwärtige Gesellschaftssystem hat. Wir müssen die Täter nicht pathologisieren, um ihre Taten abzulehnen. Selbstverständlich hat ihre Programmatik "mit dem Islam zu tun".


Der Liberalismus entstand im 17. Jahrhundert aus den Schrecken und Verheerungen des Bürgerkriegs. Philosophisch verzichtete er auf die Herrschaft des Guten, um des lieben Friedens Willen: Der Souverän soll sich aus den Weltanschauungen und Religionen heraushalten, nicht weil das ethisch richtig, sondern weil das alternativlos sei! Der Liberalismus ist moralisch leer, seine Gleichheit ist formell. Eine Gesellschaft, die immer weniger Menschen eine lebenswerte Zukunft bietet, kann also durchaus eine liberale sein. Aber, sagt Žižek, das ist zu wenig.
To think in response to the Paris killings means to drop the smug self-satisfaction of a permissive liberal and to accept that the conflict between liberal permissiveness and fundamentalism is ultimately a false conflict – a vicious cycle of two poles generating and presupposing each other. What Max Horkheimer had said about Fascism and capitalism already back in 1930s - those who do not want to talk critically about capitalism should also keep quiet about Fascism - should also be applied to today’s fundamentalism: those who do not want to talk critically about liberal democracy should also keep quiet about religious fundamentalism.
Meinetwegen, reden wir also über Islamismus und Kapitalismus; an mir soll's nicht liegen. Slavoj Žižek fordert, die Linke müsse den Liberalismus retten. Ich bin mir nicht einmal mehr sicher, ob das funktionieren wird.