Seit „Automatisierung und Ausbeutung“ erschienen ist, habe ich mein Buch ein paar Mal vorgestellt – in Museen und Buchhandlungen, Kneipen und öffentlichen Büchereien. Das Publikum dort repräsentierte einigermaßen die deutsche Gesamtbevölkerung, denke ich, von "noch ziemlich jung" bis "reifere Jugend", von ganz links bis halbrechts ("unpolitisch"), Provinz und Großstadt, akademisch Fortgeschrittene bis Facharbeiter. Die anschließenden Diskussionen mit und Fragen aus dem Publikum haben mir einen guten Eindruck vermittelt, was die Menschen hierzulande mit der „Digitalisierung“ verbinden (whatever that may be ... dazu gleich mehr!). Die Besucher meiner Veranstaltungen treibt um:
- die Fortschritte bei der Künstlichen Intelligenz
- besonders die Frage, ob dadurch die Arbeitslosigkeit steigen wird
- die Geschäftsmodelle, die durch die fortschreitende Vernetzung über das mobile Internet und das Internet der Dinge möglich werden
- und zwar vor allem der digitale Niedriglohnsektor namens Gig Economy und Crowdwork
- schließlich die Rolle der "Datenhändler" wie Google, Amazon oder Facebook
Leider kursieren viele Gerüchte und Missverständnisse über all diese Entwicklungen.
Zu jeder einzelnen wären Erklärungen angebracht, aber ich will ich diesem Post nur kurz etwas Grundsätzliches loswerden. Wahrscheinlich kommt niemand zu einer Veranstaltung über den "digitalen Kapitalismus" (so lautet der Untertitel meines Buchs), der mit diesem Ausdruck gar nichts anfangen kann. Aber große Verwirrung herrscht darüber, was dieser ominöse digitale Kapitalismus eigentlich sein soll. Ich jedenfalls verstehe darunter schlicht und einfach unsere Gegenwart, in der den Unternehmen Maschinenlernen und Robotik, vor allem aber die Massendaten durch das (mobile) Internet für die Rationalisierung und Automatisierung zur Verfügung stehen. Diese Technologien sind sozusagen der harte Kern der neuen Geschäftsmodelle, die Enabler, wie die Manager gerne sagen.
Ja, wir brauchen eine politische Ökonomie auf der Höhe der Zeit. Was wir aber überhaupt nicht brauchen, ist eine "Theorie der Digitalisierung". Es wird nicht alles digital, wie es oft heißt. Vielmehr entsteht ein digitales Abbild, das detaillierter und aussagekräftiger wird, ein Modell von Produktion, den Produktions- und Reproduktionsverhältnissen. Die Welt wird (tendenziell) maschinenlesbar. Eine enorme, tiefgreifende Umwälzung, aber eben eine im Rahmen des Kapitalismus. Die "Datenhehlerei" beispielsweise, die die Internetwirtschaft prägt, ist ein Randphänomen. Crowdworking und Crowdsourcing sind Randphänomene - interessant, sicher, aber nur verständlich, wenn sie in die größeren gesellschaftlichen und makroökonomischen Zusammenhänge eingeordnet werden.
Eine kritische und gesamtgesellschaftliche Theorie, die solche Entwicklungen umfasst, muss als ersten Schritt den populären Begriff der "Digitalisierung" als ideologisch zurückweisen. Was in der Öffentlichkeit als solche verhandelt wird, umfasst die neuste Digitaltechnik, aber eben auch ganz archaische Formen und Methoden von Arbeit, Produktion und Naturaneignung. Zur ihr gehört zum Beispiel Sklavenarbeit (bei der Rohstoffgewinnung für die Herstellung der Platinen) und ein Online-Niedriglohnsektor, in dem Arbeitsformen und Organisationsweisen herrschen, die technisch längst überholt sind, aber gesellschaftlich leider hochaktuell. Zugespitzt gesagt, das Allerneuste, was der digitale Kapitalismus zu bieten hat, stammt aus dem 18. Jahrhundert: Sklaverei, Stücklohn, Tagelöhnertum, Heimarbeit, Unterentwicklung. Die Digitalisierung (im pragmatischen, aber substantiellen Sinn "Verdatung und Vernetzung") ist eng verwoben mit der gegenwärtigen tiefen Krise unserer Gesellschaft, und ihr Verhältnis zum technischen Fortschritt ist äußerst ambivalent.
Wer im Glashaus sitzt, wirft besser nicht mit Steinen (außer natürlich, wenn er unbedingt frische Luft braucht). Trotzdem abschließend noch ein paar Worte zu dem linken Tendenzjournalismus, der bedauerlicherweise mehr zur Verwirrung als zur Aufklärung beiträgt. Zum Beispiel Tomasz Konicz, der bei Telepolis über „Robotern und Spekulationsblasen“ schwadroniert:
Vor allem im Dienstleistungssektor, bei den klassischen "Bürojobs" dürfte die Digitalisierung schnell voranschreiten, da die Kosten der Rationalisierung sehr niedrig sind. Mitunter wird der Büroangestellte, der vor dem Computer sitzt und seine Büroarbeit verrichtet, einfach durch die Installation eines entsprechenden Algorithmus ersetzt.Klingt gut.
Stimmt halt nicht.
Ach, egal.
…
Nein, irgendwie ist es doch nicht egal! Die neuen Möglichkeiten der Automatisierung werden sowohl in der bürgerlichen Öffenlichkeit als auch der linken Debatte völlig überschätzt. Nirgendwo ist bis heute irgendein "Büroangestellter einfach von einem Algorithmus ersetzt" worden. Es wird auf absehbare Zeit auch nichts derartiges geschehen. Wo kommt das her? Was weiß Tomasz Konicz, was der Rest der Welt noch nicht mitgekriegt hat? Er phantasiert das einfach deshalb, weil es so schön zur ideologischen Prämisse passt ("längst ist der Krisenprozess im kapitalistischen Weltsystems in vollem Gang" etc. pp.).
Das ist schade, denn Tomasz Konicz hat schon recht, wenn er schreibt:
Die meisten gehen davon aus, dass es sich um einen zukünftigen Krisenprozess handelt ... Dabei befindet sich die kapitalistische Arbeitsgesellschaft bereits in einer veritablen SystemkriseIn "Automatisierung und Ausbeutung" heißt es dazu:
In gewisser Weise projiziert die heutige Automatisierungsdebatte eine Entwicklung in die Zukunft, die bereits im Gange ist, so wie ein Gläubiger, der immer noch ruft: „Das Ende ist nah!“, während er nasse Füße durch die Sintflut bekommt. Die globalen Überkapazitäten und massive Unterbeschäftigung sind bereits da.Insofern sind wir uns also völlig einig (auch wenn ich nicht überzeugt bin, dass es sich bei der gegenwärtigen um die endgültig allerletzte, jetzt aber wirklich finale, Aus die Maus / Schluss im Bus - Krise des Kapitalismus handelt). Die Weltwirtschaft gleitet nur deshalb nicht in die Stagnation ab, weil die Zentralbanken Geld drucken, als gäbe es kein morgen. Im Iran drängen angeblich jedes Jahr 1,1 Millionen Menschen auf den Arbeitsmarkt, viele davon mit Hochschulbildung. Große Teile Afrikas sind völlig verheert und ohne jede Perspektive auf Jobs durch Wirtschaftswachstum. Aber es genügt Konicz nicht, auf solche doch durchaus beängstigende Tatsachen hinzuweisen. Nein, er sattelt noch ein Angstszenario oben drauf:
Es sind auch nicht nur einfache Tätigkeiten in der Warenproduktion, wie sie durch Automatisierung in den vergangenen Dekaden verschwanden. Nun trifft es auch Anwälte, Börsenmakler - und Journalisten.Hält Konicz das für überzeugend und mobilisierend? Steht dahinter sein politisches Interesse? Vielleicht, aber dadurch wird es auch nicht besser. Er verfehlt das ambivalente Verhältnis zwischen Digitalisierung und Krise, wenn er beispielsweise völlig kritiklos Schrottforschung wie eine neue Bitkom-Studie und methodisch fragwürdige Untersuchungen wie die berühmt-berüchtigte von Frey und Osborne referiert, als enthielten sie Fakten und nicht (umstrittene!) Projektionen.
Es findet gerade kein großer Automatisierungsschub statt. (Vielleicht fände er statt, wenn die Löhne nennenswert stiegen und auch in mehreren Weltregionen, so dass eine Produktionsverlagerung nicht möglich wäre. Dies wäre eine Voraussetzung.) Die Stärke der Tech-Unternehmen, die die Digitalisierung vorantreiben, beruht schlicht und einfach auf der Schwäche der anderen. Daher auch die prominente Rolle der Digitalisierung in der politischen Debatte. Um noch einmal mich selbst zu zitieren:
Die Anziehungskraft der späten Digitalisierung geht gerade auf diese gesamtwirtschaftliche Entwicklung zurück. Sie ist die Antwort, die auf jede Frage passen soll, die Lösung aller Probleme, der Hoffnungsträger in einer Weltwirtschaft, die erlahmt.... So kommt es zu einer bemerkenswerten Spannung: Während öffentliche Dienste wie die Krankenversorgung kaum noch funktionieren, versprechen Automatisierungsenthusiasten grenzenloses Wachstum und eine Produktion auf Knopfdruck. Während Transhumanisten von der Unsterblichkeit träumen, sind in den USA schätzungsweise 46 Millionen Menschen auf Lebensmittelspenden angewiesen, in Deutschland fast 1,5 Millionen. Schwärme von Robotern krabbeln über die Äcker von Bauern, die in die Städte abgewandert sind, wo keine Arbeit auf sie wartet. Während Computerexperten mit großem Aufwand und zweifelhaften Erfolgsaussichten selbst noch die menschliche Interpretation und Interaktion zu mechanisieren versuchen, liegt die Arbeitskraft von Millionen, nein: Milliarden brach.
Es ist, als sei die Menschheit in ein zirkuläres Irresein geraten, aus dem sie nicht herauskommt. Rationalisierung ohne Sinn und Verstand.