"Kosmopoliten gegen Traditionalisten" - so erklärt sich Die Zeit den Schwenk nach rechts. |
Wer wählt die AfD und warum?Ich bespreche das neue Buch von Philip Manow "Die Politische Ökonomie des Populismus" für Andruck / Deutschlandfunk. Die Rezension ist eine Empfehlung mit Einschränkung, so wie das in dieser Sendung üblich ist.
Die Stärke von Manows Position wird am deutlichsten, wenn wir sie mit der Gegenposition kontrastieren - dem sozusagen kulturalistischen Ansatz. Sind es einfach kulturelle Verschiebungen, die dazu führen, dass ein wachsender Teil der Bevölkerung alles Fremde und Unbekannte ablehnt? Der Leipziger Soziologe Holger Lengfeld beispielsweise spricht von einer bloß kulturellen Bedrohung, die der AfD die Wähler zutreibe. Handfeste ökonomische Interessen spielen angeblich keine Rolle. Im Herbst des vergangenen Jahres veröffentlichte das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung ein Papier von Martin Schröder mit dem bezeichnenden Titel: „AfD-Wähler sind nicht abgehängt, sondern ausländerfeindlich.“
Man braucht kein Soziologie-Studium, um zu verstehen, dass beides kein Gegensatz sein muss (weshalb das "sondern" im Titel keinen Sinn ergibt - Jens Berger von den Nachdenkseiten hat übrigens diese Studie gründlich auseinandergenommen). In "Die Ökonomie des Populismus" zeigt Philip Manow nun ausführlich, dass die internationale Rechtsentwicklung sich durchaus erklären lässt aus den Folgen von Migrationsbewegungen und Freihandel, die eben mehr Verlierer als Gewinner produzieren - aus dem Druck auf die Löhne oder der Überfüllung der Wohnungsmärkte, vor allem aber aus der Angst.
Es geht in diesem Buch auch um die USA, Großbritannien und Italien, aber besonders interessant finde ich die Analyse der bundesdeutschen Entwicklung.
Die Agenda 2010 spielte eine bedeutende Rolle, weil insbesondere die drastische Verkürzung der Bezugszeit des Arbeitslosengelds (ALG I) dazu geführt hat, dass in einem Sozialstaat, der über fünfzig Jahre den »Statuserhalt« der Versicherten zu seinem zentralen Charakteristikum gemacht hatte, (Arbeitsmarkt-)Insider nun relativ schnell (im Normalfall in nur zwölf Monaten) zu Outsidern werden können. Die Agenda 2010 hat in dieser Hinsicht, zentrale Interessen einer Kernbeschäftigtengruppe des »Modell Deutschlands«, der Facharbeiter nämlich, nachhaltig verletzt, was nach 2005 viele von ihnen zur linken Protestwahl veranlasst hat.So ungefähr ist es tatsächlich gelaufen, fürchte ich.
Es erscheint nun sehr wahrscheinlich, dass im Zuge der Flüchtlingskrise dieser »Agenda-Effekt« zum Tragen gekommen ist. Jetzt war klar, dass man im Falle der Arbeitslosigkeit nach nur einem Jahr in seiner sozialstaatlichen Absicherung faktisch den Flüchtlingen gleichgestellt wäre, und das völlig unabhängig vom Ausbildungsstand, vorherigen Verdienst (und damit der Beitragshöhe) und der vorherigen Beitragsdauer. Im entsprechenden Milieu dürfte dies ganz erheblich zum Unmut über die massive Zuwanderung beigetragen haben. Dieser Unmut war dort umso deutlicher ausgeprägt, wo er sich vor dem Hintergrund einer zurückliegenden eigenen Erfahrung von Arbeitslosigkeit oder einer Konfrontation mit ihr in der unmittelbaren sozialen Umgebung ausgebildet hat.
In der Bundestagswahl vom September 2017 kamen offenkundig mehrere Entwicklungen zusammen: zunächst und hauptsächlich der massive, als krisenhaft erlebte Anstieg der Zuwanderung in und nach 2015; dazu das Bewusstsein von der eigenen ökonomischen Verletzlichkeit, das im Osten aufgrund der aus dem Transformationsprozess resultierenden Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt und in der Wirtschaft allgemein besonders ausgeprägt war, und schließlich die im Rahmen der Agenda 2010 vollzogene Abwicklung des alten Modells sozialstaatlicher Statussicherung.
Das alles addierte sich offenbar zur Wahrnehmung, zurückgesetzt und ökonomisch deklassiert zu werden, zur Wahrnehmung des line jumpings der Migranten, der Aufkündigung eines impliziten Vertrags zwischen den Bürgern und ihrem Staat, der ja aber augenscheinlich gar keine Bürger, sondern nur noch auf einem bestimmten Territorium akzidentiell versammelte Marktindividuen und Rechtsträger kennen will. Die ursprüngliche, von der Agenda 2010 ausgelöste Protestbewegung nach links wurde nun zu einer Protestbewegung nach rechts, weil die linke Opposition hinsichtlich der Einwanderung keine Alternative zur Regierungspolitik bieten wollte.
Auf die Schwächen dieses Buchs konnte ich, wegen der immer knappen Zeit, nicht eingehen. Sie fangen an mit dem titelgebenden Begriff der politischen Ökonomie.
Philip Manow versteht unter politischer Ökonomie die nationalstaatliche Organisation und Regulierung der kapitalistischen Verhältnisse. Der Staat lenkt die individuellen und kollektiven Konflikte auf dem Arbeitsmarkt in rechtliche und institutionelle Bahnen. Mit Transferzahlungen wie Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe mildert er den beständigen Abwertungsdruck auf die Löhne und federt die Folgen von Arbeitslosigkeit und Krankheit ab. Dies gilt für alle Industrieländer, aber sie tun es auf jeweils besondere Weise. So entstehen unterschiedliche politische Ökonomien, Varianten des Kapitalismus.Diese Lesart von "Politischer Ökonomie" hat Schlagseite hin zum Politischen und Nationalen. Die unterschiedlichen nationalen "Wachstumsmodelle" sind nicht auf die Zwänge und Möglichkeiten der Weltmärkte bezogen. Die grenzüberschreitenden Märkte entscheiden jedoch über die Möglichkeiten distinkter nationaler Strukturen.
Spannend und möglicherweise entscheidend wäre nun die Frage, wie tragfähig diese klassische politikwissenschaftliche Unterscheidung der unterschiedlichen "Kapitalismen" (Gøsta Esping-Andersen oder Peter Hall) überhaupt noch ist. Damit stellt sich die Frage nach Stabilität und Dauer. Ein beachtlicher Teil dieser nationalen Strukturen und politischen Institutionen scheint in Auflösung begriffen. Ist der Populismus nicht gerade ein Aspekt der Erosion von dauerhafter sozialstaatlicher Einbettung der kapitalistischen Wiedersprüche? Immerhin hat Deutschland große Teile des alten Wohlfahrtsstaates mit den „Agenda 2010“-Reformen demontiert. "Grundsicherung statt Statuserhalt" lautete ihr Prinzip, durchaus liberal-angelsächsisch statt konservativ-kontinentaleuropäisch, um es im Jargon der Varianten-Theoretiker zu sagen. Auch zwischen Arbeitsmarkt-Insidern und Arbeitsmarkt-Outsidern zu unterscheiden, fällt zunehmend, weil Arbeitsformen wie Befristung, Leiharbeit und Soloselbständigkeit immer häufiger werden, und zwar in allen "politischen Ökonomien" Europas. Der Populimus als Krisenerscheinung wird erst vor diesem Hintergrund verständlich, auch weil er verspricht, die Marktkräfte zugunsten eines Bevölkerungsteils wieder einzubetten.
Manows Intervention ist nicht nur eine sozialwissenschaftliche Leistung, sondern politisch wichtig. Die Dethematisierung materieller Interessen - und eben auch der Interessensgegensätze zwischen Zuwanderern und Eingeborenen - hat die Rechten stark gemacht. Die Ignoranz der veröffentlichten Meinung gegenüber den negativen Folgen für die Unterschichten liegt zum Teil daran, dass es der Wirtschaft und damit auch der Bevölkerung angeblich blendend geht. Dass diese so handnäckig beschwiegen werden, erklärt sich meiner Meinung aber auch nach aus falschen politischen Kalkülen. Ein Teil der Linken (der nicht antikapitalistisch orientiert ist) glaubt, dass die Abschaffung der nationalen Grenzen tatsächlich innerhalb des bestehenden Weltmarktes möglich sei. Durch weltweite Freizügigkeit sollen alle gewinnen. Diese Position ist nicht haltbar und wird auch nur von wenigen vertreten, aber sie passt wunderbar zum Interesse der Unternehmen nach billiger Arbeitskraft und einer Unterschichtung von Arbeitsmärkten.
Aber auch manche Antirassisten, die weniger naiv sind oder tun, fürchten sich davor, über die vorhandenen Interessengegensätze zu sprechen, um den Migrationsfeinden "keine Argumente zu liefern" - eine sehr kurzsichtige Strategie. Der Moralismus der "Wohlmeinenden und Wohlhabenden" (Bernd Stegemann) lädt natürlich dazu ein, die ethische Verpflichtung, keine Menschen ertrinken zu lassen, zur bloßen Heuchelei zu erklären.
Die AfD - und die neuen rechten Parteien und Bewegungen in anderen Ländern - betreiben die Umdeutung von Interessensgegensätzen in kulturelle. Ihr Kern ist Identitätspolitik, zum Wohle von Weißen, (Kultur-)Christen und "richtigen Männern" (und ein paar "richtigen Frauen"). Das linksliberale Kommentariat und die linke Gesellschaftsforschung antwortet auf die Identitätspolitik von rechts mit - was sonst gäbe es auch im Angebot? - Identitätspolitik. Zuletzt wurden die besondere ostdeutsche Erfahrung bemüht, um die Migrationsfeindlichkeit zu erklären. So entsteht ein diskursive Karussell, dessen Fahrgäste sich reihum Ressentiments vorwerfen.
Eigentlich zeigt Philip Manow mit viel statistischem Aufwand nur, dass das aktuelle Wahlverhalten und die Umfrageergebnisse sich sozioökonomisch erklären lassen. Er erklärt nicht, warum Interessen ihren Ausdruck in (rechter) Identitätspolitik finden, er stellt diese Frage nicht einmal. Woher kommt die Kulturalisierung der Politik? Wenn wir das wissen, werden wir auch bessere Antworten auf den Vormarsch der Reaktionäre und Rassisten finden. Immerhin sollten wir langsam merken, was nicht funktioniert – auf rechte Identitätspolitik mit linker zu antworten.