Montag, 21. Juli 2008


So hat also die fortwährende Ausdehnung der Massenerziehung für die nicht- akademischen Arbeitskategorien zunehmend die Verbindung mit beruflichen Erfordernissen verloren. (...) Gleichzeitig wurde ihr Platz in der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Struktur immer stärker abgesichert durch Funktionen, die wenig oder nichts mit der beruflichen Ausbildung oder mit irgendwelchen anderen rein schulischen Notwendigkeiten zu tun haben. Das Heraufsetzen des Schulentlassungsalters auf ein Durchschnittsalter von 18 Jahren ist unerlässlich geworden, wenn die Arbeitslosigkeit in vernünftigen Grenzen gehalten werden soll. Im Interesse der berufstätigen Eltern und im Interesse der gesellschaftlichen Stabilität und ordentlichen Handhabung einer zunehmend wurzellosen Stadtbevölkerung haben sich die Schulen zu gewaltigen Organisationen zur Beaufsichtigung von Jugendlichen entwickelt (...).

Unter diesen Umständen verschlechterte sich der Inhalt der Erziehung in dem Maße, wie ihre Dauer zunahm. (...) Und in der Tat reicht, wie man in den jüngsten Jahren gesehen hat, die Schließung auch nur eines einzigen Schulzweiges über einen Zeitraum von einigen Wochen aus, um in der Stadt, in der dies geschieht, eine soziale Krise hervorzurufen. Die Schulen sind in ihrer Funktion von Betreuungsanstalten von Kindern und Jugendlichen für das Funktionieren der Familie, die Stabilität der Gemeinschaft und die gesellschaftliche Ordnung im allgemeinen unerlässlich (obwohl sie selbst diese Aufgabe schlecht erfüllen). Mit einem Wort gesagt: es gibt für die Jugend keinen anderen Platz mehr in der Gesellschaft als die Schule. In dem die Schulen dazu dienen, ein Vakuum zu füllen, sind sie selbst zu jenem Vakuum geworden – zunehmend ihres Gehalts entleert und auf wenig mehr reduziert als ihre äußere Form. Genau wie im Arbeitsprozess, wo der Arbeiter um so weniger zu wissen braucht, je mehr zu wissen da ist, genauso gibt es in den von der Masse der zukünftigen Arbeiter besuchten Schulen immer weniger Grund für den Lehrer, zu lehren und die Schüler zu lernen, je größer de Wissensstoff. Hierin, mehr als in irgendeinem anderen einzelnen Faktor – der Ziellosigkeit, Sinnlosigkeit und den leeren Formen des Erziehungssystems – finden wir den Ursprung des wachsenden Antagonismus zwischen der Jugend und ihren Schulen, der die Schulen auseinanderzusprengen droht.

Harry Braverman (1977 / 1974): Die Arbeit im modernen Produktionsprozess. Frankfurt / New York: Campus. 332 ff.