Frage: Laut einer Umfrage der Barmer-Krankenkasse leidet heute jeder vierte junge Erwachse (18-24 Jahre) unter einer psychischen Erkrankung. Auch die Zahl der Psychotherapien steigt seit Jahren. Bedeutet das nicht, dass immer mehr Menschen einen echten Leidensdruck spüren und sich deshalb an die Ärzte wenden? Oder bilden die sich das nur ein?Carlotte Jurk: Natürlich gibt es diesen Leidensdruck. Aber wir müssen das massenhafte individuelle Leiden gesellschaftlich betrachten, um es richtig zu verstehen. Unsere Gesellschaft wurde gänzlich auf Konkurrenz ausgerichtet. Wir sind ständig aufgefordert, selbstbewusst und durchsetzungsfähig sein, um uns gegen unsere Konkurrenten zu behaupten. Wenn dann die Psyche schwächelt, scheint das existenzbedrohend. Unser Gesundheitswesen suggeriert zudem, Leiden sei überflüssig. Den Menschen wird ein entsprechendes Anspruchsdenken regelrecht antrainiert. Aber indem wir das Leiden zu einer medizinischen Angelegenheit machen, geben wir es an die anderen ab. Darum fällt es uns immer schwerer, Leiden auszuhalten. Aber - und das ist meine große Sorge - wenn wir unsere Schwäche immer nur als negativ und bedrohlich erlebt wird, dann erfahren wir ihre Überwindung niemals als eigene Leistung.
Donnerstag, 8. März 2018
Das eigene Selbst als Lebensaufgabe
Ein neuer Text und ein Interview mit der Psychologin Charlotte Jurk zur Digitalisierung der Psychotherapie sind bei Telepolis erschienen. Zwei weitere Teile dieser Mini-Serie folgen demnächst.