Mittwoch, 22. Dezember 2010



Freitag, 17. Dezember 2010

Fünfzehn Jahre Haft für ein Transparent

Wenn die Studierenden in Italien, England oder Frankreich protestieren, ist die Polizei nicht zimperlich und drischt schon einmal mit dem Knüppel so zu, dass Demonstranten eine Hirnblutung erleiden. Aber was Karen Krüger in der FAZ von heute über die staatliche Reaktion auf die Studentenproteste in der Türkei berichtet, stellt das noch in den Schatten:
In der Türkei wird derzeit geprügelt, und geknüppelt, als befinde sich das Land im Ausnahmezustand. Seit gut einer Woche demonstrieren die Studenten gegen die drohende Privatisierung von Universitäten, vor allem aber demonstrieren sie gegen die Regierung Erdogan und dessen konservativ-muslimische Partei AKP. Die Polizei antwortet mit roher Gewalt: Eine neunzehnjährige schwangere Studentin wurde derart brutal zusammengeschlagen, dass sie ihr Kind verloren hat. Einem Studenten, der Europaminister Bagi in Ankara mit einem Ei an der Schulter getroffen hatte, drohen zwei Jahre Haft.
(...) Weil ein Student in einem Stadtpark Alkohol getrunken hatte, brach eine Gruppe von Polizisten ihm beide Beine und verletzte ihn schwer am Kopf – der Amtsarzt diagnostizierte jedoch nur leichte Verletzungen; im März wurden bei einem öffentlichen Auftritt Erdogans zwei Studenten verhaftet, weil sie ein Plakat mit dem Schriftzug „Wir wollen keine selbstbezahlte Bildung“ hochgehalten hatten – die Staatsanwaltschaft fordert eine Haftstrafe von fünfzehn Jahren, da die beiden angeblich einer verbotenen linken Organisation angehören.




Ein Bericht mit einem kurzen erklärenden Video findet sich hier.

"Öffentlichkeitsmanagement"


Wie funtionieren heute Zensur und Propaganda im Netz? In einem Artikel, der gestern in der Schweizer 'Wochenzeitung' erschienen ist, analysiere ich, aus Anlass der Wikileaks-Auseinandersetzung, neuere Entwicklungen.
John Gilmore, Internetaktivist der ersten Stunde, hat einmal gesagt: «Das Internet betrachtet Zensur als Funktionsstörung und findet einen Weg, sie zu umgehen.» Das Zitat entspringt der Überzeugung, aus dem «dezentralen Charakter» des Netzes folge notwendigerweise eine horizontale und demokratische Willensbildung. Heute wirkt das fast naiv. Machen sich doch MedienstrategInnen den anonymen Charakter der Internetdebatten just zunutze, um Aufmerksamkeit zu lenken, Gerüchte zu streuen und Kritik abzublocken. Das Netz taugt für viele Zwecke – und immer mehr auch für eine kaum merkliche Kontrolle der Öffentlichkeit.

Dienstag, 14. Dezember 2010



Les bourgeois c'est comme les cochons
Plus ça devient vieux plus ça devient bête

Montag, 13. Dezember 2010

"Der Backlash gegen WikiLeaks war zu erwarten!"

Gerade ist bei Telepolis mein Interview mit Evgeny Morozov erschienen. Evgeny ist Experte für Zensur und im weiteren Sinne "Internetkontrolle".
Sie wollen den Iranern und Chinesen das Internet als politische Waffe geben, damit sie ihre Regierungen stürzen – nicht, damit sie Pornos anschauen und verbotenerweise Spielfilme herunterladen.

Freitag, 10. Dezember 2010

Demotrend "Bücher-Block"

Ich bin mir nicht sicher - ist das kokett? Bildungsbürgerlich? Lustig ist es jedenfalls.



Montag, 6. Dezember 2010




Sicherungsverwahrung, zum allerallerallerletzten Mal und nur wegen dem Allerletzten - nämlich jenem Artikel, der vor zwei Tagen in der BILD erschien.
Sex-Täter will zurück in den Knast

Polizisten bewachten ihn wochenlang, rund um die Uhr. Klaus-Dieter W. (51) ist ein gefährlicher Sextäter, musste aber aus der Sicherungsverwahrung entlassen werden. Jetzt will er zurück in den Knast – freiwillig! Letzte Woche rief der Mann (saß u.a. wegen Vergewaltigung) in der JVA Werl an, jammerte über die „feindliche Umwelt". Dann sagte er: „Ist mein Arbeitsplatz noch frei? Muss ich denn was tun, um unter Eure Fittiche zu kommen?“
Na, eben das, wonach die Journaille geifert: einen Mord begehen, vergewaltigen. Aber unbedingt vorher BILD Bescheid sagen, damit die einen Fotographen vorbeischicken.
Ein weiterer Fall: Der in Dortmund lebende Sextäter Walter W. (48, Name geändert). Er zu BILD: „Ich habe Angst um mein Leben.“ Der gelernte Dreher wollte angeblich von vorne anfangen. „Doch das ist nicht leicht. Versuchen Sie mal, mit Polizeibeamten im Schlepptau Bewerbungsgespräche zu führen.“
Die Autoren dieses Artikels "A. Wegener und F. Schneider" haben zu erwähnen vergessen, dass nicht nur Polizeibeamte, sondern auch Boulevard-Journalisten den Entlassenen rund um die Uhr folgen und beispielsweise die Nachbarn fragen, was sie eigentlich davon halten, dass ein "Sex-Gangster" in ihrer Nähe wohnt. Dass BILD sogar eine Deutschland-Karte veröffentlicht hat, in der die Aufenthaltsorte der Ex-SVler preisgegeben werden. Dass Anfang November der Justizminister von Sachsen angekündigt hat, SVern eine "Anschlussunterbringung" anzubieten, weil "viele gar nicht raus wollen", haben sie auch nicht mitbekommen. Nachdem BILD und andere Gossenblätter alles getan haben, um ihre Resozialisierung unmöglich zu machen, finden die Schreiber es kurios, dass manche der Entlassenen zurück in den Knast wollen.

Sonntag, 5. Dezember 2010

Hingucken verboten!

Die bisher lustigste Reaktion auf die Veröffentlichung der "Cablegate"-Papiere durch Wikileaks kommt von der Regierung der USA: Sie verbietet ihren Beamten und Angestellten einfach, die Informationen zur Kenntnis zu nehmen. Laut New York Times gab das Office of Management and Budget am Freitag eine entsprechende Anweisung heraus:
Classified information, whether or not already posted on public websites or disclosed to the media, remains classified, and must be treated as such by federal employees and contractors, until it is declassified by an appropriate U.S. Government authority.
Die NYT nennt das treffend
a classic case of shutting the barn door after the horse has left

Donnerstag, 2. Dezember 2010

You want change? You get more of the same! II


Vielleicht sollte ich eine neue Rubrik unter diesem Motto einrichten?

Gina Thomas berichtet für die FAZ über die Schulpolitik der britischen liberal-konservativen Regierung, speziell über deren gerade erschienenes Weißbuch "The Importance of Teaching". Thomas nennt dieses Papier "eine bemerkenswerte Studie"; ich frage mich, warum - auf den 95 Seiten wird nichts studiert, untersucht oder analysiert. Die Regierung legt lediglich ihre Pläne für die nächste Runde der Schulreform dar, und das klingt beispielsweise so:
The evidence from around the world shows us that the most important factor in determining the effectiveness of a school system is the quality of its teachers.

Ok, wenn's sogar weltweit belegt ist. (Diese reichlich pauschale Aussage ist übrigens mit einer Fußnote versehen, die auf die britische Higher Education Statistics Agency Bezug nimmt und auf nicht näher bestimmte "nationale Datenbanken".) Eine gute Zusammenfassung bringt der Guardian, mit der passenden Schlagzeile "Bad teachers out, social mobility in". Die Lehrer und ihre didaktischen Fähigkeiten in den Mittelpunkt der Bildungsdebatte zu rücken, finde ich nicht besonders bemerkenswert, sicher nicht originell.

Aber was hat die Regierung denn nun mit den Schulen vor? Gina Thomas:

Um das Niveau zu heben, werden sich die mit neuen Befugnissen ausgestatteten Schulleiter künftig leichter von ungeeignetem Personal trennen können. In einer dramatischen Abkehr von den politisch-korrekten Auflagen der letzten Jahre sollen Lehrer mit größeren Freiheiten ausgestattet werden und sogar "angemessene Gewalt" anwenden dürfen, um Disziplin im Klassenzimmer wahren zu dürfen.
(...) In der Gestaltung des Lehrplanes sollen Schulleiter ebenfalls unabhängiger agieren. (...) Die Koaltitionsregierung will jeder Schule ermöglichen, ihren eigenen Charakter zu entwickeln und ihr eigenes Ethos zu definieren.

Von der anti-zentralistischen Rhetorik abgesehen - die von den vorigen Regierungen übrigens auch gepflegt wurde - klingt das nach genau dem bildungspolitischen Programm, das schon die US-amerikanischen öffentlichen Schulen ruiniert hat. Wer das nicht glaubt, kann es in Diane Ravitchs "The Death and Life of the Great American School System" nachlesen.

Dienstag, 30. November 2010

Sowohl Hegel als auch Marx waren davon überzeugt, daß die Evolution menschlicher Gesellschaften kein offener Prozeß ist, sondern daß diese Evolution an ihr Ende kommen würde, wenn die Menschheit einmal ein gesellschaftliches System gefunden habe, das ihre tiefsten und grundlegendsten Bedürfnisse befriedigt.

Francis Fukuyama (1992) The End of History and the Last Man. London / New York: Free Press. P. xi.

Drohnen-Einsatz gegen Einwanderer, gefördert mit EU-Forschungsgeldern

Bereits im November hat Frontex, die - ja, was eigentlich - "die EU-Behörde"? "europäische Grenzschutzagentur"? - angekündigt, Drohnen zur Grenzkontrolle einsetzen zu wollen, und Herstellerfirmen aufgefordert, ihr entsprechende Angebote zu unterbreiten.
In the domain of land border surveillance, there is a wide spectrum of possible technical means that can be employed to provide effective surveillance including: daylight and infrared cameras, ground radars, fixed ground sensors, mobile systems, manned aircraft and satellites.
However, it is clear that Unmanned Aerial Vehicles (UAVs) could also play an important role in further enhancing border surveillance in the future, though they face a number of technical and other challenges.
Das berichtete Inter-Press Service (IPS), eine Art "NGO-Nachrichtenagentur" am 1. November. Nun bringt Neo-Opticon die Meldung, dass die großen europäischen Rüstungsfirmen ein Konsortium gebildet haben, um Aufklärungsdrohnen zu entwickeln - finanziell gefördert mit EU-Mitteln!
The OPARUS project brings together Sagem, BAE Systems, Finmeccanica, Thales, EADS, Dassault Aviation, ISDEFE, Israel Aircraft Industries and others to “elaborate an open architecture for the operation of unmanned air-to-ground wide area land and sea border surveillance platforms in Europe”. The consortium has received €11.8 million in EU funding.

Es ist den europäischen Waffenproduzenten gelungen, unter dem Markenzeichen "Sicherheitsforschung" einen neuen Markt zu erschließen - wesentlich unterstützt von EU-Institutionen wie ESRIF , dem European Security Research and Innovation Forum . IPS zitiert Frank Slijper von der niederländischen "Kampagne gegen den Waffenhandel", der die Rolle dieses Gremiums treffend zusammenfasst:
"ESRIF was the place in Europe where these supply and demand actors met in a structured formalised setting," he said. "A win-win situation really for all sides on the forum. Such initiatives are steps that enable military integration at a later point." Slijper added: "Note the number of arms companies on board of ESRIF, who post 9/11 have set up special (homeland) security divisions in their companies as that has been a new growth market for their companies."
The European Security Research and Innovation Forum (ESRIF) that ran between 2007 and 2009 brought together individuals and groups from the research community, the private business security sector, and European institutions. Frontex has been a key voice in the forum.

Montag, 29. November 2010



Sonntag, 28. November 2010

You want change? You get more of the same!

Erinnert sich jemand noch daran, wie vor drei Jahren die Aktienkurse in Ruschen kamen und die Weltwirtschaftskrise begann? Ich habe damals wie viele geglaubt, dass der "Neoliberalismus" nun ans Ende gekommen sei, dass ein neues Verwertungsmodell entstehen müsse. Von wegen! Zumindest national hat die Krise nicht das Ende des Neoliberalismus gebracht, sondern seine Eskalation: Niemals wurde in Europa mehr privatisiert und der öffentliche Sektor härter beschnitten.

In Großbritannien plant Justizminister Ken Clarke, einen Teil der Bewährungshilfe künftig durch Privatfirmen organisieren zu lassen, berichtet der Guardian.

Facing big budget cuts, Kenneth Clarke, the justice secretary, will publish a green paper on sentencing in the next fortnight which will introduce new private agencies, as opposed to probation services, to enforce tougher community orders. The plan would also include private property among the areas in which work schemes can take place.

Straftäter würden dann die Arbeitsstunden, zu denen sie verurteilt wurden, im Dienst von Privatfirmen ableisten und beispielsweise Gebäude putzen und instand halten.

Samstag, 27. November 2010



Sonntag, 21. November 2010

Die wirklich wichtigen Bomben

Eine Kollegin weist daraufhin, wie die deutschen Medien mit dem versuchten Bombenanschlag auf eine Berliner Moschee umgehen: Sie nehmen ihn kaum zur Kenntnis. Die Tat führte nur zu wenigen, ganz kurzen Meldungen - obwohl es bereits der vierte Brandanschlag auf die Sehitlik-Moschee in diesem Jahr war!

Man vergleiche das mit dem Medienecho auf die "Windhuk"-Bombenattrape, über die (laut Google News) 2147 Artikel erschienen. Hier Terror vor der Haustür, da eine Terrorwarnung. Aber natürlich, von den einen Bomben werden "wir" bedroht, von den anderen nur die Muslime.

Dienstag, 16. November 2010

Die Macht des Lügendetektors

In der FAZ von gestern steht ein Beispiel für staatliche Überwachung, das gleich zweifach typisch ist: äußerst übergriffig und letztlich gegen bewusste Täuschung nicht besonders wirksam! (In "Datenschatten" habe ich das ausführlich erläutert.)
Die jüngsten technischen Innovationen auf staatlicher Seite sind Pläne gewesen, Steuersündern mit Hilfe von Lügendetektoren auf die Spur zu kommen und Sozialhilfebetrüger durch den Einsatz von Stimmanalyse-Apparaten aufzuspüren. In einem Pilotversuch mit 23 Behörden wurden Telefonanrufe solchen Audiodetektor-Tests unterworfen, um festzustellen, ob ein höheres Niveau von Stress oder Nervosität in der Stimme von Anrufern auf die Absicht hindeuten könne, dass die Betreffenden unrechtmäßig Leistungen verlangten. Das Arbeitsministerium brach die Versuche vor einigen Wochen mit der Begründung ab, sie seien "ihr Geld nicht wert" gewesen.

Es wäre interessant zu erfahren, ob die Anrufer von diesen "Audiodetektor-Tests" eigentlich wussten und wie das die Ergebnisse beeinflusste. Scheinabr aber galt auch für diesen Lügendetektor, dass ernur die überführt, die ein schlechtes Gewissen haben und / oder an sein Funktionieren glauben. Wie in dieser wunderbaren Szene aus The Wire:



Die Macht des Lügendetektors ist der Glaube an seine Macht. Eine kurze Internetsuche führt mich zu "The Polygraph and Lie Detection" (2003):
The research on the detection of deception from demeanor includes the presumption that liars experience more stress than truth-tellers, especially in high-stakes circumstances, and that this stress shows in various channels, including in the voice. Recent meta-analytic evidence shows consistent associations of lying with vocal tension and high pitch (DePaulo et al., in press). Applied efforts to develop measures of voice stress for the detection of deception have not been very successful, however.

Donnerstag, 11. November 2010

Sicherungsverwahrung, zum allerallerletzten Mal. Ich rechne mit vielem, aber diese Entscheidung des Bundesgerichtshofs trifft mich unvorbereitet. Die Verwahrten, deren Sicherungsverwahrung angeordnet wurde, als noch eine Höchstgrenze von 10 Jahren galt und deren Haft nachträglich verlängert wurde, sollen nicht freikommen. Im Focus heißt es:
Die Oberlandesgerichte (OLG) Frankfurt am Main, Hamm, Schleswig und Karlsruhe hatten entschieden, dass Altfälle nach der zur Tatzeit bestehenden Höchstfrist von zehn Jahren Sicherungsverwahrung zu entlassen sind. Demgegenüber wollten die OLG Stuttgart, Celle und Koblenz die Sicherungsverwahrung andauern lassen, wenn die Betroffen weiterhin gefährlich sind.
Der 5. Strafsenat schloss sich dem nun an und verwies zur Begründung auf Paragraf 67d des Strafgesetzbuches, der solch eine nachträgliche Gefahrenprüfung ausdrücklich anordnet. Wenn der „gegenteilige Wille des Gesetzgebers“ so unmissverständlich zum Ausdruck käme wie in diesem Fall, sei es unzulässig, das Gesetz im Sinn des EGMR-Urteils auszulegen, entschied der Strafsenat. Nach deutscher Rechtsauffassung müssen Urteile des EGMR bei der Gesetzesauslegung nur berücksichtigt und beachtet werden. Sie haben nicht das Gewicht einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts.

Da lacht der Germane

Peter Carstens, der FAZ-Experte für die Verfolgungsbehörden, schreibt über eine Blockade des Castor-Transports:
So wurden wieder ineinander gestapelte Betonpyramiden auf die Straße geschoben. Die etwa einen Meter hohen Blöcke haben dicke Löcher, durch die Bauern ihre Arme hindurch schieben, um sich in der Mitte der Pyramiden anzuketten. (...) In diesem Jahr rückte die Polizei mit einer Hebetechnik an, die es erlaubt, die verschachtelten Pyramiden ein klein wenig anzuheben (bei allzu starkem Anlupfen brächen den Bauern die durchgesteckten Arme, und das darf nicht sein)

Mittwoch, 10. November 2010

Security trough obscurity

In meinem Buch "Datenschatten" habe ich mich auch mit der Überwachung im privaten Bereich beschäftigt: Liebhaber spionieren der Partnerin hinterher, die Ehefrau ihrem Mann und Eltern ihren Kindern. Nun bringt die ZEIT einen Artikel über die familiäre Überwachung.
Allerdings bleibt Autor Hellmuth Vensky ziemlich an der Oberfläche; eigentlich zählt er lediglich auf, was die Geräte bisher so können (was man anderswo, nicht nur bei mir bereits nachlesen konnte). Richtig, manche Eltern lassen ihren Kindern keinen Freiraum, schenken ihnen kein Vertrauen - aber warum? Und welche Rolle spielt die Technik in der Eltern-Kind-Beziehung? In "Datenschatten" heißt es:
Die Überwacher sind nicht die autoritären Eltern von einst. Wie bei der Facebook-Schnüffelei ist an solchen Angeboten attraktiv, dass sie nicht bemerkt wird. (...) Paradoxerweise soll die Überwachungsmaßnahme das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern entlasten. Statt die Kinder zur Rede zu stellen und Streit zu provozieren, "können Sie mittels Track Your Kid Stück für Stück Ihrem Kind Vertrauen schenken, welches es auch verdient – denn Sie wissen, dass Ihr Kind sich in einer sicheren Umgebung aufhält."
Müssen oder wollen Eltern dann allerdings eingreifen, fliegt der Schwindel auf – oder sie müssen zu weiteren Lügen greifen. Moralisch mag man Tracking anrüchig finden, pädagogisch ist es verheerend: Es vermittelt Kindern und Jugendlichen, dass ihre Eltern ihnen nicht vertrauen und nicht glauben. Gleichzeitig zeigen sich die Überwacher als schwach. Gerade weil sie selbst nicht daran glauben, dass ihre Regeln befolgt werden, greifen sie zur Dauerkontrolle.

Nebenbei erwähnt allerdings Vensky ein Phänomen, das ich für ganz wesentlich halte: wirksame Überwachung muss sich verbergen.
Das Fraunhofer-Institut für Zuverlässigkeit und Mikrointegration IZM versucht dagegen, den Nachwuchs zu überlisten: mit dem Kidfinder. Der passt nämlich in die Slots von gängigen tragbaren Spielekonsolen, ohne die eh kein Kind das Haus verlässt. Sowohl über das Mobilfunk-Netz GSM als auch über die Satellitennavigation GPS bestimmt das Ding seine Position und teilt sie den Eltern auf Anforderung per SMS mit. Handelsübliche Kartensoftware verwandelt die Koordinaten dann in ein Kreuzchen auf dem Stadtplan.

Darf man sich eigentlich selbst zitieren? Ich tu's einfach:
Die Methoden der Marktforscher, Detektive, Polizisten und Agenten, letztlich aller Überwacher beruhen auf Täuschung und Geheimhaltung. Sie müssen verdeckte Ermittler sein. Überwachung, die den Überwachten keine Regeln vorschreiben kann, muss täuschen und sich verstecken. Sie muss verschleiern, wie sie funktioniert.

Es wird nicht lange dauern, bis aufgeweckte Kinder verstehen, wie die technisierte Überwachung von Mama und Papa funktioniert. Dann werden sie ihre Spielekonsole der Freundin mit nach Hause geben, wenn sie in den Club wollen.

Dienstag, 9. November 2010

Biosozialpolitik. Ich komme immer mehr zu der Überzeugung, dass das Verschmelzen von Armutsverwaltung und Bildungs- und Gesundheitspolitik nichts anderers ist als eine Wiederkehr der Sozialpolitik der Lebensstile. So wie in der "Armenpflege" um 1900 kommunale Aufseher kontrollierten, ob nicht ein Familienmitglied die gewährte Unterstützung vertrank oder sich auf eine andere Art als unwürdig zeigte, so müssen die Bedürftigen von heute jeden Aspekt ihrer Lebensführung offenlegen und rechtfertigen.

Gemeinsam ist dieser Form der Armenpflege, dass sie rein "angebotsseitig" ausgerichtet ist: Die Erwerbslosigkeit ist Folge von Defiziten der Personen, und diese Mängel werden mit der Zeit (und mit Voranschreiten der Krise) immer allgemeiner definiert, bis sie schließlich in einer Unlust oder Antriebslosigkeit bestehen sollen. "Die wollen einfach nicht richtig!" Es gibt demnach schuldig und unschuldig Bedürftige.

Was ist also das Neue? Gibt es überhaupt irgendetwas Neues. einen "Fortschritt"? Vielleicht, wie umfassend heute die pädagogische Aufgabe des Staates definiert wird. Er soll - biosozialpolisch - die Defizite in den Einstellungen bekämpfen. Zugriff auf die Bevölkerung hat er über die Schulen und Kindergärten.
Der britische Politiker Frank Field, am äußersten rechten Rand der Labour Party, schlägt jetzt vor, in der Schule "Kindererziehung" zu unterrichten (nachzulesen im Guardian).
The coalition's poverty adviser, Frank Field, will call for all children to be given parenting classes at school when he presents a government-commissioned review into poverty to the prime minister later this year. The theme of Field's review is "how to prevent poor children becoming poor adults". He recommends a move away from a mainly financial approach to tackling child poverty, favoured by the last government, to a strategy that focuses on parenting, and on the early childhood years, up to the age of five.

Mittwoch, 3. November 2010




Dienstag, 2. November 2010

Eigentlich habe ich von diesem deprimierenden Thema mehr als genug. Aber, aus gegebenem Anlass - Sicherungsverwahrung, zum allerletzten:

Das von der Regierung geplante "Therapie-Unterbringungsgesetz" soll nächsten Februar in Kraft treten. Viele Fachleute bezweifeln, daß auf dieser juristischen Grundlage die sogenannten "Altfälle" "weggesperrt" werden können. Unabhängig davon finde ich bedenklich, daß nach diesem Gesetz zur Gefahrenabwehr (worauf kürzlich der Republikanische Anwaltsverein RAV hingewiesen hat)

eine ziemlich wolkig definierte psychische Störung ausreichen soll, um Menschen auf unbestimmte Zeit und nach dem Gutdünken von Richtern und Gutachtern einzusperren.


Nicht bedenklich findet das offenbar die Kriminologin Monika Frommel (Interview in der taz). Ein kurzer Auszug:
Verstößt das nicht gegen die Europäische Menschenrechtskonvention, wenn das Straßburger Urteil damit einfach ausgehebelt wird?
Nein, denn die Konvention lässt eine Freiheitsentziehung bei "psychisch Kranken" ausdrücklich zu.

Die Sicherungsverwahrten sind aber nicht "psychisch krank"…
Aus Sicht der Konvention genügt eine psychische Störung, etwa eine dissoziale Persönlichkeitsstörung, mit abnormer Aggressivität und fehlender Empathie für die Opfer. Auch der Straßburger Gerichtshof hat das schon bestätigt.

Wie viele Sicherungsverwahrte haben wohl eine psychische Störung?

Fast jeder.

Oh ja, fast jeder, denn "dissoziale Persönlichkeitsstörung" ist die häufigste Diagnose bei Gefängnisinsassen überhaupt, keineswegs nur bei den Sicherungsverwahrten!

Langsam entdecken auch linke gefängniskritische Gruppen das Thema. Das "Projekt Baulücken" bringt das Beispiel von einem Tankstellenräuber:
für einen mann, dem bislang lediglich ein tankstellenüberfall am 16. februar 2010 nachgewiesen werden konnte, hat die staatsanwaltschaft im august 2010 eine haftstrafe von achteinhalb jahren und anschließende sicherungsverwahrung beantragt. der staatsanwalt betonte, dass laut dem psychiatrischen gutachten bei dem angeklagten ein hohes rückfallrisiko bestehe und somit weitere straftaten zu erwarten seien. der mann stelle damit eine gefahr für die allgemeinheit dar, die eine sicherungsverwahrung erforderlich mache.

Ich kann dieses Beispiel nicht nachprüfen. Aber es illustriert, in welche Richtung die "Reform" der SV geht: "rückfallgefährdet" steht für "krank" steht für "gefährlich" ...

Montag, 18. Oktober 2010


Dienstag, 12. Oktober 2010

Donnerstag, 7. Oktober 2010

Sicherungsverwahrung zum letzten: Das Internetmagazin The European interviewt den forensischen Psychiater Hans-Ludwig Kröber, mit dem zu sprechen ich auch schon das Vergnügen hatte. Lesen lohnt sich, weil Kröber viele Vorurteile über das Klientel angeht, die in der SV landen.
Wir haben beispielsweise bei den sieben Fällen Berlins, die möglicherweise aus der Sicherungsverwahrung entlassen werden, eine Altersspanne von 50 bis 69 Jahren. Einer von ihnen ist seit einem Schlaganfall halbseitig gelähmt, ein anderer verlässt seit Jahren seine Zelle nicht mehr und liegt ununterbrochen vor dem Fernseher. Sie alle haben natürlich diverse internistische Komplikationen. Viele von ihnen sagen dann auch einfach: “Ihr habt uns hier reingebracht, jetzt seht bitte zu, wie ihr mit uns fertig werdet.”

Und:
Im Hinblick auf wirkliche Gefahrenlagen geht die Diskussion an der Wirklichkeit vorbei. Die Gefängnisse und Gerichte entlassen jedes Jahr viele hundert Menschen aus der Haft. Unter diesen Menschen befinden sich pro Jahr ca. 100 bis 300 Menschen, die hochgradig gefährlich sind. Das sind Menschen, die fünf, sieben oder neun Jahre Strafe verbüßt haben und mit einer erheblichen Wahrscheinlichkeit weiterhin straffällig bleiben. Dieser Teil der Entlassenen bildet nun die eigentlich gefährliche Gruppe. Nicht etwa die Sicherungsverwahrten, die in ihrer Vitalität schon erheblich gedämpft sind und eigentlich nur vorgezogen entlassen werden. Bis 1998 sind diese peu à peu entlassen worden. Nie hat jemand gemerkt, dass die nach zehn Jahren Entlassenen Sicherheitsprobleme verursachen.

Mittwoch, 6. Oktober 2010

Freitag, 24. September 2010

Gestern starb Martin Büsser im Alter von nur 42 Jahren, laut Wikipedia an Krebs. Für mich war er nicht nur der nüchtenste, sondern auch der klügste der deutschen Popintellektuellen. Er begeisterte sich selbst für das Gute, Wahre und Schöne, das Laute, Schnelle, Harte, Schräge und er begeisterte mit seiner Begeisterung seine Leser dafür. Wenn er das Infame geiselte, dann niemals von oben herab, als Advokat der "Hochkultur".


Büssers Lebenslauf beim Ventil-Verlag

Donnerstag, 23. September 2010

Rückkehr des Blöden

An die Sicherungsverwahrten heften sich merkwürdige Phantasien. Die wahrscheinlich fatalste ist die, sie seien sozusagen Hannibal Lecter - abartige Figuren, von perversen Begierden getrieben, die ebenso abstoßend wie unerklärlich sind. Ach ja, "das Böse", unerklärlich, unausrottbar. Wie nennt nun der Spiegel seine Reportage über die Angst in der Kleinstadt Werl, wo einige Straftäter aus der SV entlassen werden? Erraten: "Die Rückkehr des Bösen"!

Der Bericht bringt so gut wie nichts Neues, allerdings eine informative Graphik über die Anlassdelikte der SV:

Montag, 20. September 2010

Freitag, 17. September 2010


Der Tagesspiegel enthält eine informative interaktive Graphik über die Opfer rechter Gewalt seit 1990.


Und weil gerade so viel vom Wegsperren die Rede ist: Nicht nur die Sicherungsverwahrung wird stetig ausgeweitet, sondern auch der Maßregelvollzug:
Die Zahl der von dieser Haftform Betroffenen hat sich in den vergangenen Jahren stetig erhöht. Nach Informationen des Statistischen Bundesamtes saßen vor 20 Jahren 3 649 Personen für ihre Straftaten in der Forensik. Im Jahr 2009 waren es bereits 9 251 Menschen, das sind knapp 1 000 mehr als im Jahr zuvor.

Das berichtet Marcus Latton in einem interessanten Artikel in der Jungle World von dieser Woche.

Seine Diskussion der Rückfälligkeit ist allerdings, nun ja, falsch, insofern nämlich der Maßregelvollzug bei schwerer Delinquenz nicht besser als die normalen Knäste abschneidet. 10 bis 15 Prozent der Entlassenen werden in beiden Fällen einschlägig straffällig.

Mittwoch, 15. September 2010

Wie zurechnungsfähig ist die deutsche Justizpolitik?


Der Irrsinn um die Sicherungsverwahrung geht weiter (wenn er auch mittlerweile weniger die "große Politik" als die Provinz beschäftigt). Eine kurze Zusammenfassung der Entwicklung - nur um deutlich zu machen, warum "Irrsinn" genau das richtige Wort ist:

Seit 1998 steigt in Deutschland die Zahl der Sicherungsverwahrten sehr schnell an, obwohl es nicht mehr Morde, Vergewaltigungen oder Kindstötungen gibt. Mittlerweile sind die Rechtsgrundlagen für die Anordnung der Sicherungsverwahrung (SV) so unüberschaubar geworden, dass Fachleute, die es wissen müssen, behaupten, dass "da niemand mehr wirklich durchblickt".

Spätestens seit 2008 werkeln deshalb verschiedene Arbeitsgruppen der Justizministerien der Länder an einer Reform, um die SV handbar zu machen. Teilweise erklären sie, damit die Anwendung auf wirklich schwere Taten und wirklich gefährliche Täter beschränken zu wollen. Bis 1998 mussten alle Verwahrten nach 10 Jahren entlassen werden. Danach wurde die SV aber für eine große Menge von Verwahrten einfach weitergeführt. Eben sie sind die sogenennanten "Altfälle", die nun nach und nach entlassen werden). Im Dezember 2009 urteilte der Europäische Menschengerichtshof, dass diese Verlängerung der SV nicht rechtsmäßig sei. Deutschland ging in Revision, obwohl es dafür eigentlich keine Erfolgsaussichten gab. Im März 2010 mahnte unter anderem der bekannte Kriminologe Arthur Kreutzer in der FAZ:
Die Bundesregierung will sich dem Urteil einer Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht beugen. Aber alles spricht dafür, dass es bei deren Sachentscheidung zur Unzulässigkeit einer rückwirkend angewendeten Sicherungsverwahrung bleibt. (...) Wir müssen uns also darauf einstellen, dass demnächst diese überwiegend wahrscheinlich tatsächlich gefährlichen Gefangenen freizulassen, engmaschig zu kontrollieren, außerdem zu entschädigen sein werden. Es sind siebzig bis hundert Gefangene, die lange Strafen und bis zu zehn Jahre zusätzlicher, unrechtmäßiger Haft hinter sich haben. Sie sind oftmals selbständigen Lebens völlig entwöhnt. Aber wohin mit ihnen? Wer nimmt sie auf? Wie kann man mit ihnen arbeiten, wenn Bewährungshelfer weiterhin mit viel zu hohen Betreuungszahlen belastet sind? Lassen sich Zustände wie bei dem ehemaligen Sicherungsverwahrten in Heinsberg-Randerath - polizeiliche Dauerpräsenz, anhaltende Bürgerproteste, NPD-Mahnwachen - vermeiden?

Im Mai verwarf das EU-Gericht erwartungsgemäß die deutsche Beschwerde. Spätestens da war abzusehen, dass die Altfälle über kurz oder lang entlassen werden müssen. Derweil taten Landespolitiker, die Gefängnisse, Bewährungshilfe

nichts.


Die verschiedenen Oberlandesgerichte gewähren oder verweigern die Entlassung immer noch von Fall zu Fall. Wohin mit diesen Menschen? Was wird getan, um die von ihrnen ausgehende Gefahr zu minimieren? Folgendes: Die Boulevardpresse druckt Karten, wo die Epizentren der Gefahr eingezeichnet sind, die Wohnungen der Entlassenen werden von Journalisten belagert und von Anwohnern mit Steinen beworfen. Teilweise werden die Entlassenen mit einem unglaublichen Aufwand von der Polizei überwacht. Manche wollen angesichtes der Anfeindungen durch Nachbarn und Journalisten ohnehin lieber im Knast bleiben (so geschehen in Berlin). In Freiburg wiederum klagt die Polizei, sie habe nicht genügend Personal für die Observation der Freigelassenen, berichtet die Badische Zeitung.
Die beiden am Freitag entlassenen Männer haben mit Hilfe der Stadt eine vorübergehende Unterkunft gefunden. Wie zu erfahren war, wohnen die drei in Freiburg lebenden Ex-Sicherungsverwahrten an drei unterschiedlichen Orten in der Stadt. Eine gemeinsame Unterkunft sei sicherheitstechnisch nicht sinnvoll, heißt es.
Sollten weitere Sicherungsverwahrte entlassen werden, sieht die Stadt keine Möglichkeiten mehr, bei der Quartiersuche zu helfen, so Bürgermeister Neideck: "Dann bliebe nur noch die Obdachlosenunterkunft", sagt er. Das würde bedeuten: Die Männer könnten zwar in diesen Räumen übernachten, müssten das Quartier aber morgens verlassen und könnten erst abends wieder zurückkehren.

Die Justizministerin stellte Ende Juni einen Reformvorschlag vor, der sofort (vor allem von CDU- und CSU-Politikern) torpediert wurde. Gleichzeitig werden nach und nach immer mehr der Altfälle entlassen. Der Innenminister verfiel im August auf den Ausweg, die "psychisch gestörten" Täter in speziellen Einrichtungen unterzubringen. Nun werden erste Gebäude für diese "Sicherungsunterbringung" auf den Knastgeländen gebaut und entlassene SVer in Psychiatrien untergebracht.
Aber Menschen, die psychisch gestört sind, haben in der SV ohnehin nichts verloren. ("Psychisch gestört" im juristischen Sinne - und auf den kommt es hier schließlich an.) Sie nun für krank zu erklären, um sie weiter wegsperren zu können, mag bequem sein, wird aber vor den Gerichten keinen Bestand haben. Da nützt es auch nichts, dass sich die "Unterbringung" von der "Verwahrung" unterscheiden soll durch mehr Freiheiten und mehr Therapieangebote - was offenbar im Knast nicht passiert. Kurz: Sinn des Gesetzes zur "Sicherungsunterbringung" ("Gesetz zur Therapierung und Unterbringung psychisch gestörter Gewalttäter") sind, im besten, harmlosesten Fall, gute Schlagzeilen in der Bildzeitung. Wie zurechung- und schuldfähig sind die deutschen Justizpolitiker?

Dienstag, 14. September 2010

Sarrazin, die Springer-Presse und halb Deutschland als verfolgende Unschuld


Im Verlauf der öffentlichen Auseinandersetzung um seine in Buchform gepressten rassistischen Ausfälle gelang es Sarrazin und seinen Unterstützern aus Politik und Medien, einen essenziellen zivilisatorischen Mindeststandard in der BRD zu schleifen (...) : Offen rassistische oder antisemitische, klar auf neofaschistischer Ideologie aufbauende Positionen und Äußerungen wurden in der Öffentlichkeit nicht toleriert.

In seinem Blog analysiert Tomasz Konicz die gegenwärtige Hetzkampagne "von und mit" Thilo Sarrazin. Ich bin nicht mit allen seinen Thesen einverstanden, aber Konicz arbeitet hervoragend heraus,

- dass die neue Qualität der Hetze darin besteht, dass nun explizit biologisch und eugenisch argumentiert werden darf

- dass der erschreckende rassistische Sog, den seine Thesen entfalten, sich aus der Angst vor der Krise speist, die die Kleinbürger und Facharbeiter um die letzen Verstandesreste bringt

Es ist, als ob ein Damm gebrochen sei und nun sich eine braune Flut über die Republik ergießt. Endlich will der deutsche Mann ohne Rücksicht auf „politisch korrekte Tabus“ diejenigen Menschen offen hassen und verachten dürfen, die bereits marginalisiert, ausgeschlossen und pauperisiert wurden – ganz wie es Sarrazin vormacht.

Klassisch, aber wohl nicht falsch ist Koniczs (faschismus-)theoretische Erklärung dessen, was wir gerade erleben müssen:
Der Riss in der veröffentlichen Meinung deutet auf einen strategischen Umschwung bei einer Minderheit der Funktionsträger aus Kapital, Meiden und Politik hin, die nun sich eine faschistische Option bei weiterer Krisenbewältigung offenhalten wollen. Sarrazin findet aber nur bei den "reaktionärsten und chauvinistischsten" (Dimitroff) Teilen der Funktionseliten und der herrschenden Klasse der BRD derzeit tatsächlich Unterstützung. Die hohe Abhängigkeit der dominanten deutschen Exportindustrie von den Auslandsmärkten, die gerade vermittels einer erneuten Exportoffensive die Dynamik der Weltwirtschaftskrise zu durchbrechen hofft, verhindert eine weitgehende Unterstützung einer neofaschistischen Partei durch breite Kreise des deutschen Kapitals.

Montag, 13. September 2010

Polizei, nie war sie so wertvoll wie heute!


Kein Land mehr ohne "Sparpaket". So auch Großbritannien, wo die neue Regierung den öffentlichen Sektor radikal beschneiden will. Da hat sich die Vereinigung der Polizeichefs von England und Wales, die Police Superintendents' Association, eine originelle Bergündung ausgedacht, warum gerade sie unverzichtbar sind (berichtet der Guardian). Deren Vorsitzende Derek Barnett argumentiert:
In an environment of cuts across the wider public sector, we face a period where disaffection, social and industrial tensions may well rise. (...) We will require a strong, confident, properly trained and equipped police service, one in which morale is high and one that believes it is valued by the government and public.
Die treffende Guardian-Schlagzeile: Wenn ihr uns kürzt, werden wir mit den Protesten gegen die Kürzungen nicht fertig. Bizarrerweise illustrierte Barnett das mit dem Hinweis auf das Peterloo-Massaker im Jahr 1819, bei dem Soldaten 15 Demonstranten gegen die Weizenpreise umbrachten. Ein bißchen weniger bizarr ist sein Hinweis, daß die gegenwärtige Regierung anders als die Thatchers die Polizei von ihrer Austeritätspolitik nicht verschonen will.

Mittwoch, 8. September 2010

Erwähnenswert, offenbar

Johannes Leithäuser berichtet in der FAZ von heute über den Machtkampf in der britischen Labour Party.
Es sind noch andere Kandidaten im Rennen: die beiden ehemaligen Minister Ed Balls (Bildung), Andy Burnham (Gesundheit) und die farbige Abgeordnete Diane Abbott.

Sic! Wer die jüngste Berichterstattung der Zeitung zur Sarrazin-Hetze kennt, wird sich auch nicht wundern, wenn demnächst in ihren Artikeln hinter der Namensnennung "(Jude)" stehen wird.

Montag, 6. September 2010


Wie so oft bei den Web.de-Schlagzeilen - lachen oder weinen? Diesmal geht es vom "Integrationsverweigerer" (Innenminister de Mazière) zum "Integrationsmuffel". Auf dem Bild abgebildet ist eine solche Mufflerin mit ihrer Integrationsverweigerungshaube in ihrer natürlichen Umgebung. Die Frage, ob man "das Zeug zum Deutschen" habe, darf da natürlich nicht fehlen.

Donnerstag, 2. September 2010

Baden-Württemberg hat unter den Bundesländern die Privatisierung im Strafvollzug am weitestens getrieben. Dort gibt es nicht nur ein "teilprivatisiertes" Gefängnis, an dem der "Sicherheitsdienstleister" Kötter beteiligt ist. Schon 2007 wurde die Bewährungs- und Gerichtshilfe und der Täter-Opfer-Ausgleich der "gemeinnützigen Gesellschaft mit beschränkter Haftung" Neustart übertragen. Das Argument der Landesregierung: Privatisierung spart Kosten.

Wirklich? Der Landesrechnungshof hat sich in seiner diesjährigen Denkschrift mit der Privatisierung beschäftigt und kommt zu folgendem Ergebnis:
Mit dieser Aufgabenübertragung wollte das Land eine Effizienzrendite von 10 bis 15 Prozent erzielen und die Qualität steigern. Tatsächlich ist die Aufgabenerledigung durch einen privaten Träger 47 Millionen Euro teurer als die Eigenbesorgung des Landes. Das Land sollte den Vertrag mit der Gesellschaft kündigen oder zumindest das vereinbarte Entgelt absenken.

Übrigens hat keine Zeitung auf diese Pressemitteilung reagiert.

Unterdessen spielen sich in der teilprivatisierten Anstalt in Offenburg merkwürdige Dinge ab. Angestellte von Kötter, die die Knast-Werkstätten betreuen, begrüßen Gefangene kumpelhaft mit "Abklatschen"und halten sich nicht an die Sicherheitsauflagen, sofern diese die Produktion behindern. Eine Sozialarbeiterin hat angeblich sogar einen Häftling geküßt.
Das wenigstens könnte eine gute Wirkung der Privatisierung sein: dass die von Köter mehr schlecht als recht bezahlten Aufseher sich den Gefangenen weniger überlegen als fühlen die beamteten Schließer mit ihrem Berufsstolz. Kein Wunder - laut einer Anfrage der SPD zu den Zuständen in der JVA Offenburg verdienen sie „teils kaum mehr als 7 Euro“ für eine Stunde Gefängnisdienst.

Freitag, 20. August 2010







Eben erst habe ich bemerkt, dass schon im Juli eine Rezension von 'Datenschatten' in der Jungen Welt erschienen ist. Peter Wolter merkt kritisch an, dass erstens
die Fülle an Informationen und an angerissenen Themen läßt den Leser allerdings etwas verwirrt zurücklässt

- zugegeben, die 170 Seiten sind vollgepackt bis zum Rand, da habe ich übertrieben! - und dass zweitens Hinweise fehlen,

wie man die staatlichen und privatwirtschaftlichen Schnüffler ausmanövrieren kann.

Dafür, finde ich, gibt es andere Bücher; 'Datenschatten' ist eine Analyse der aktuellen Tendenzen von Überwachung, kein Ratgeber. Schade finde ich, dass Peter Wolter meine Grundthese (die ich scheinbar zu gut versteckt habe), nicht erwähnt: (Digitalisierte) Überwachung scheitert auch immer wieder, wenn nämlich die Überwacher nicht die eingesetzte Technik monopolisieren und sich auf die Unkentnis und Passivtät der Überwachten verlassen können. Zitat aus dem Buch:
Ob Überwachung abschreckend wirkt, lässt sich gar nicht beurteilen, ohne den gesellschaftlichen Zusammenhang zu kennen, in dem sie zum Einsatz kommt. Dann stellen sich Fragen wie: Wie isoliert sind die Überwachten voneinander? Mit was können die Überwacher drohen? Wer glaubt ihrer Drohung? Weiß der Überwachte von der Überwachung? Kennt er ihre Mechanismen – und damit ihre Grenzen?

Und an anderer Stelle heißt es in 'Datenschatten':
Die Methoden der Marktforscher, Detektive, Polizisten und Agenten beruhen auf Täuschung und Geheimhaltung. Sie müssen verdeckte Ermittler sein. Überwachung, die den Überwachten keine Regeln vorschreiben kann, muss täuschen und sich verstecken. Sie muss verschleiern, wie sie funktioniert.

Donnerstag, 19. August 2010

Soziale Medien nach dem Hype

Im neuen Freitag ist ein Text von mir über die Auswirkungen von Facebook, Twitter etc.. Ich habe mich freizügig aus 'Datenschatten' bedient.
Meine Cousine liebt Klaviere. Sie liebt sie so sehr, dass meine ohnehin etwas wacklige Liebe zur Familie auf eine harte Probe gestellt wird. Am besten gefallen ihr die ganz, ganz tiefen Töne, die, die so schön laut und langanhaltend dröhnen, wenn sie mit dem Unterarm möglichst viele Tasten auf einmal runterdrückt. Dann lauscht sie andächtig, wie sich das Lärmgewitter langsam in der Ferne verliert, lächelt mich an und sagt: „Mensch, macht das Klavier Krach!“
Wenn es um die sozialen Auswirkungen von Technik geht, bewegen sich erstaunlich viele Menschen auf dieser rührend kindlichen Bewusstseinsebene: Das Klavier macht den Krach, das Auto den Unfall und die Pistole den Mord. In Wirklichkeit macht nämlich nicht das Klavier Lärm, sondern meine Cousine, ohne die das Instrument wunderbar still bliebe.

Dienstag, 17. August 2010

"Der Teufelskreis der vererbten Armut"


Ministerin von der Leyen kennt sich aus mit Vererbung (klar, was eine ehemalige Familienministerin ist!).
Wir wollen die Bildungschancen bedürftiger Kinder verbessern, um den Teufelskreis vererbter Armut zu durchbrechen

So anlässlich der Ankündigungen, wie das Arbeitsministerium die Vorgaben des Verfassungsgerichts zu Hartz 4 umsetzen will, ohne den Eltern der bedürftigen Kinder einen zusätzlichen Cent in die Hand zu geben. Die sind angeblich weder vertrauenswürdig, noch kompetent genug, um selbst zu entscheiden, ob sie ihr Kind lieber ins Schwimmbad schicken oder zum Klavierunterricht oder ihm doch lieber eine neue Jeans kaufen. Oh nein, sagen CDU und FDP:
Vielmehr soll der individuelle Bedarf an Bildung ermittelt werden. Das Ministerium unterscheidet zwischen Lernförderung, Schulmaterial, Mittagessen sowie Kultur- und Sportangeboten in der Freizeit. Dabei soll es Schulmaterial und Freizeitbeihilfen (etwa für Sportvereine und Musikschulen) für alle Kinder gleichermaßen geben. Der Bedarf an schulischer Nachhilfe soll aber individuell festgestellt werden.
Dazu sollen die Jobcenter, die künftig als „Informationsdrehscheibe“ für alle Leistungen für Kinder von Langzeitarbeitslosen dienen sollen, verstärkt mit den Schulen zusammenarbeiten. In den Jobcentern sollen „Familienlotsen“ speziell für die Aufgabe geschult werden.

Mit "vererbter Armut" ist nämlich nicht gemeint, dass die Erwerbslosen ihren Nachkommen nichts zu hinterlassen haben, sondern entsprechend der Bildungsideologie , dass sie ihnen nicht die nötigen Fähigkeiten vermitteln, um auf dem Arbeitsmarkt zu reüsieren!
Wer gute Nerven und einen starken Magen hat, kann sich das Pressestatement der Ministerin auch anhören (Wav). "Unkompliziert" und "unbürokratisch" wird demnächst also mit dem Projekt "Bildungskarte" das Familienleben der Armen durchleuchtet, gemeinsam von Sozialbehörden und Schulen - warum nicht gleich die Polizei mit ins Boot holen? Und wann, ja wann wird endlich der Teufelskreis des ererbten Reichtums gebrochen?

Samstag, 14. August 2010

Investigative Financial Times ...

Was kaum jemand weiß: Keineswegs sitzen nur Kinderschänder dauerhaft hinter Schloss und Riegel. Deutschland schließt auch Diebe und Betrüger auf Lebenszeit weg.

Die Financial Times hat herausgefunden, dass nicht nur Mörder und Vergewaltiger in Sicherungsverwahrung sitzen.
Wer wissen will, wie viele Straftäter insgesamt aufgrund von "Vermögensdelikten" in Sicherungsverwahrung sind, wird beim Statistischen Bundesamt fündig. In der Fachserie "Rechtspflege", Reihe "Strafvollzug", erfährt man, dass in Deutschland 36 der 491 Sicherungsverwahrten im Jahr 2009 wegen Diebstahls-, Betrugs- und Urkundendelikten in der Verwahrung waren.

Ich habe das übrigens in meinem Radiobeitrag zum Thema, der letzten November im Deutschlandfunk gesendet wurde, erwähnt. Darin heißt es:

Gewaltlose Taten machen - je nach Definition und Statistik - zwischen 15 und 35 Prozent der Sicherungsverwahrungen aus.

So weit ich sehe - ich habe keine Statistiken zur Hand - sitzt etwa die Hälfte der Verwahrten wegen Sexualstraftaten (die meisten von ihnen gewaltsamen Sexualstraftaten), etwa 15 Prozent wegen Mord und der Rest wegen mehr oder weniger gewaltsamer Eigentumsdelikte.

Mittwoch, 11. August 2010

"That's it!"

"Es reicht." Warten wir nicht alle darauf, dass den Dienstleistungsproletariern endlich der Kragen platzt? So wie dem Flugbegleiter Steve Slater?



Ein Spendenkonten wurde eingerichtet, um Steve, der angeblich mit einem Massenaufgebot von Polizisten verhaftet wurde und nun wegen "vorsätzlicher Gefährdung" und groben Unfugs angeklagt werden wird, zu unterstützen. Näheres auf seiner Facebook-Seite.




Ich empfehle, sozusagen als theoretischen Hintergrund, Arlie Hochschilds 'The Managed Heart - Commercialization Of Human Feeling'. Hochschild untersuchte 1983 die "emotionale Arbeit" von Flubegleiterinen und ähnlichen Berufen. Der Widerspruch zwischen dem tatsächlichem Fühlen und dem erzwungenen Lächeln macht krank. Oder, wie es eine der Passagiere ausdrückte:
Ich wünschte, wir könnte alle unseren Job auf diese Art kündigen. Er sah irgendwie glücklich aus.

Eine erste Nachahmungstäterin - etwas zahmer, aber immerhin ...

Sonntag, 8. August 2010

Verwahrt, gesichert, untergebracht


Vor zwei Jahren begann ich mich für die "Sicherungsverwahrung" zu interessieren. Mittlerweile habe ich insgesamt drei Radiobeiträge darüber hergestellt und dabei das ein oder andere erfahren. Nun ist das Thema (mangels eines anderen?) zum Sommerhit der deutschen Öffentlichkeit geworden, zum diesjährigen Sommermärchen von den Triebtätern, der Gefahr und der Sicherheit. Ein paar Anmerkungen ...
Die schärfste Waffe, die das deutsche Strafrecht kennt

Die Maßnahme stammt aus der Willkürjustiz der Nazis (auch wenn viele andere Länder vergleichbare Sanktionen kennen). Die "schärfste Waffe" oder "eingreifendste Sanktion", die der Souveränität gegen die Bevölkerung zur Verfügung steht, ist die Sicherungsverwahrung deshalb, weil sie nicht mehr vom Gesetzesverstoß ausgeht (der nun entprechend der Schwere der Schuld geahndet wird), sondern von der Persönlicheit des Täters, seinem "Hang zu schweren Straftaten", wie es das Gesetz formuliert. Der Täter gilt als unbelehrbar, "durch Strafe nicht zu beeindrucken", kurz gesagt: Dem Richter reißt der Geduldsfaden und er läßt den Angeklagten bis auf weiteres im Knast verschwinden.

Einen wie mich, der den staatlichen Organen ziemlich alles, aber wenig Gutes zutraut, muss die Sicherungsverwahrung deshalb interessieren: Sie bezeichnet eine der liberalen Begrenzungen der Staatsmacht, und ihre Entgrenzung bedroht längst nicht nur pädophile Mörder. Jetzt werfen CDU/CSU-Funktionäre Vorschläge in die Debatte wie den, ehemalige Gefängnisinsassen im Rahmen der Führungsaufsicht mit Videokameras und Funkfesseln zu überwachen oder die Verdachtshaft auf "Staatsschutzdeliktte wie Terrorismus auszuweiten". Was eigentlich bedeutet "Polizeistaat", wenn nicht die Überwachtung von verdächtigen Personen, ohne dass denen irgendetwas zu Last gelegt werden kann?
Gleichzeitig demonstrieren zahlreiche Politiker und Gerichte, dass ihnen Recht und Gesetz schnuppe sind. Statt die Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte umzusetzen, setzen sie auf Verschleppung und Verzögerung, und Innenminister de Maziére schlägt eine "Sicherungsunterbringung" vor. Die Verwahrten würden sich "freiwillig einsperren lassen", was aber trotzdem irgendwie keine Freiheitsentziehung sein soll ...

Die Ausweitung der Präventivhaft steht nicht nur für eine autoritärer werdende Strafjustiz, sondern noch für eine andere Entwicklung: der zunehmenden Pathologisierung von abweichendem Verhalten. Die Gerichte bescheinigen den Tätern ja ausdrücklich, nicht verrückt, sondern zurechnungsfähig und also schuldfähig zu sein - sonst könnte man sie in den geschlossenen Abteilungen der Irrenhäuser unterbringen! Die bundesdeutsche Justiz hat in der Vergangenheit aus Bequemlichkeit häufig diesen Ausweg gewählt und Nicht-Verrückte als verrückt klassifiziert, um sie auf unbestimmte Zeit aus der Gesellschaft zu entfernen. Nun aber verbreitet sich immer mehr der Begriff der "Persönlichkeitsstörung", demzufolge "diese Unglücklichen nicht nur eine minderwertige Gesundheit, sondern auch eine minderwertige Krankheit" haben, wie es Robert Musil einst ausdrückte. Obwohl die Täter die Wirklichkeit nicht wahnhaft verzerren und ihre Handlungen eigentich kontrollieren können, sollen sie doch irgendwie krank sein. Ihre Bedürfnisse und Handlungsmuster sollen durch Therapien veränderbar sein.
In der Wirklichkeit der deutschen Gefängnisse findet diese modische Idee allerdings keine Anwendungen. Gerade die Sicherungsverwahrten bekommen keine Therapien angeboten. In den Anstalten gelten sie, ganz wie früher, als unbelehrbare Berufs- und Gewohnheitsverbrecher. Trotzdem spielen Psychiater eine immer größere Rolle im Ablauf der Sicherungsverwahrung. Sie stellen anhand psychologischer Kriterien die Gefährlichkeitsprognose. Die entsprechenden Verfahren stammen letztlich aus der Versicherungslogik: die Individuen werden in Risikogrupen eingeteilt. Die moderne versicherungsmathematische Eingruppierung ergänzt die Stigmatierung durch die Justiz. Ideologisch werden die Verbrecher werden immer mehr pathologisiert, praktisch im Knast verwahrt, weggesperrt und vergessen.

"Kann mir vielleicht irgendwer erklären, worum es hier überhaupt geht?"

Seit 1998, als das Sexualstraftäterbekämpfungsgesetz erlassen wurde, hat sich die Zahl der Anordnungen fast verdreifacht. Von den etwa 76 000 Gefängnisinsassen sind gegenwärtig 511 in Verwahrung. In einem Dutzend Fällen wurde die SV nachträglich verhängt. (Ungefähr 1.800 Personen verbüßen außerdem eine lebenslange Freiheitsstrafe; von ihnen ist aber gar keine Rede.) Von den Sicherungsverwahrten sprechen die Politker gern in Superlativen: "hochgefährlich", "Schwerstverbrecher", "therapieresistent". In Wirklichkeit werden sie nicht häufiger rückfällig als andere ehemalige Gefängnisinsassen, die wegen schwerer Straftaten einsaßen, nämlich in 15 bis 25 Prozent der Fälle.
Nach Freilassung von Schwerverbrechern geht in Marburg die Angst um - Seitdem die Männer in Marburg leben, ist die Spielstraße im Stadtwald verwaist. Frauen und Kinder sind nur noch selten in den Gärten der angrenzenden Reihenhäuschen zu sehen

Es handelt sich in dieser Meldung von gestern wohlgemerkt "um einen um einen 57-Jährigen, der eine Zwölfjährige missbraucht hat, und einen 53-Jährigen, der wegen versuchen Raubmords hinter Gittern saß"! Die Ängste, die auf die ehemaligen SVer projiziert werden, sind völlig irrational. Jedes Jahr kommt es zu Zehntausenden Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Laut Ursula Enders von der Beratungsstelle 'Zartbitter' sind die Mißbraucher von Mädchen in etwa 30 Prozent der Fälle Verwandte, und in 60 Prozent der Fälle gehören sie zu deren 'sozialen Nahbereich'. Es sind Familienfreunde, Sporttrainer, Lehrer. Sexuelle Gewalt ist Alltag, und wer seine Kinder vor ihr schützen will, sollte besser den Onkel nicht aus den Augen lassen.

Samstag, 7. August 2010

"Wer diesen Band studiert, wird möglicherweise animiert, künftig einen schmaleren Datenschatten zu werfen."

Eine wohlwollende Besprechung von 'Datenschatten' ist in 'Menschen Machen Medien', der Ver.di-Monatszeitung der Medienarbeiter, erschienen - ich freue mich immer, wenn sich die Rezensenten die Mühe machen, das Buch tatsächlich zu lesen.
„Datenschatten“ zeigt, wie sich die sozialen Beziehungen und gesellschaftlichen Machtverhältnisse angesichts der ungeheuren Menge kursierender digitaler Daten und immer ausgeklügelteren Überwachungsmethoden verändern. (...) Die Studie beschreibt die historische Entstehung des "Datenschattens", die Überwachung am Arbeitsplatz, die "Umrisse eines (Sozial-)Kontrollstaats, der seine verstreuten Wissensbestände vernetzt und zur Kontrolle der Bevölkerung einsetzt".

Montag, 2. August 2010

Die Facebook-Seite von Mullah Omar ...

Mit Bezug auf die von WikiLeaks veröffentlichten Dokumente zum Krieg in Afghanistan analysiert Detlev Borchers den Trend, dass Nachrichtendienste und Militär immer stärker auf veröffentlichte Informationen zurückgreifen - eine Entwicklung, die auch in meinem Buch 'Datenschatten' eine gewisse Rolle spielt. Meine These:
Der Trend bei der Überwachungstechnik geht zu „Dataveillance“ – der „Überwachung der Datenlage“ durch eine möglichst umfassende Integration verschiedener Informationsquellen und eine möglichst weitgehende Automatisierung.

Borchers lehnt sich allerdings ziemlich weit aus dem Fenster, wenn er behauptet, die Open Source Intelligence (Osint) habe die von arkanen oder einfach nicht-digitalisierten Informationen "überholt". Er schreibt:
Die Auswertung öffentlich bekannter Quellen wie Nachrichtensendungen, Zeitungsartikeln oder von Blogeinträgen und anderen Daten, die im Internet verfügbar sind, angereichert mit Informationen aus Datenbanken, hat der Bedeutung nach die klassischen Spähtechniken überholt. „Sigint“, die „Signal Intelligence“, das direkte Abhören der Sendesignale des Feindes, oder die Informationsarbeit von Spionen, „Humint“ genannt, spielen im Zeitalter der Datennetze nicht mehr die größte Rolle. Dafür wird die Software immer wichtiger, die Daten analysiert und „nachrichtendienstlich anreichert“, wie es im Sprachgebrauch des Bundesnachrichtendienstes heißt. (...) „Osint“-Systeme werten Massendaten aus und verknüpfen gerade im militärischen Bereich ihre Suchstrategien mit Echtzeitdaten, die von den unterschiedlichsten Sensoren kommen können (eine Grenzübergangsstelle zum Beispiel). Dabei geht es nicht nur um einfache „Treffer“, sondern auch um die Analyse von Trends. Eine große Rolle spielt die Mustererkennung, mit der etwa Verbindungen zwischen verschiedenen Mitgliedern des sozialen Netzwerks Facebook mit den in anderen Datenbanken vorhandenen Reiseinformationen abgeglichen werden.

Das ist, vor dem Hintergrund des Kriegs in Afghanistan, eine spaßige Idee: selbst wenn die dortigen Kämpfer Facebook benutzen, werden sie vermutlich schlau genug sein, nichts zu veröffentlichen, was dem Feind nutzen könnte. In 'Datenschatten' entwickle ich ausführlich, dass die automatisierte Auswertung von Massendaten ihre Grenze findet, wenn sie gegen eine bewusst agierende und planende Organisation eingesetzt wird. Sie taugt, wie der Name nahelegt, zur polizeilich-politischen Überwachung der Masse, aber eben kaum zur "Terrorbekämpfung".