Nicht der Ton sei problematisch, sondern die Fälschung, heißt es. Das ist falsch, denn die Fälschungsanfälligkeit beginnt beim Ton. Beim hohen Ton, in dem allen Ernstes die Hybris vorgetragen wird, man könne die großen Linien der Zeitgeschichte mitunter auf vier „Spiegel“-Seiten zusammenziehen. Wer glaubt, die Gegenwart werde durch Geschichten („Stories“) über Menschen (den lügenden Reporter, den durch die Hölle gehenden Kollegen, die Ressortleitung, den Reporterhelden, der wahre Geschichten mitbringt, die noch dazu spannend sind – oder spannende, die noch dazu wahr sind?) ganz menschlich verständlich, für den hat Hans Magnus Enzensberger vor mehr als sechzig Jahren einen guten Text geschrieben. Die Form der Story, so der Befund von „Die Sprache des Spiegels“ 1957, verwandele alle Nachrichten „in ein pseudoästhetisches Gebilde, dessen Struktur nicht mehr von der Sache, sondern von einem sachfremden Gesetz diktiert ist.“ Nämlich von dem der Unterhaltung. Die Story, nicht die Nachricht, bedürfe eines Anfangs und eines Endes; die Story, nicht das Argument, bedarf einer Handlung und eines Helden. „Die Anekdote bestimmt die Struktur einer solchen Berichterstattung; die Historie wird zum Histörchen.“Man schreibt also nicht über Argumente, Ideen und Interessen, sondern über Menschen, die sie angeblich haben, und darüber, wie sie so sind, diese Menschen, wie sie aussehen und wie sie wohnen, wo man sie getroffen hat, wie gefährlich oder wenigstens exotisch es war, sie überhaupt zu treffen, und dass der Wind gegen die Kaimauer peitschte, als Glanz und Elend nachts im Zimmer Nr. soundso zusammenkamen.
Freitag, 28. Dezember 2018
Argumente brauchen keine Helden
Freitag, 21. Dezember 2018
Storytelling für Fortgeschrittene
Im Spiegel!?!
Jau. Im Spiegel. Zitat:
Die kruden Potpourris, die wie meisterhafte Reportagen aussahen, machten ihn zu einem der erfolgreichsten Journalisten dieser Jahre. Sie haben Claas Relotius vier Deutsche Reporterpreise eingetragen, den Peter Scholl-Latour-Preis, den Konrad-Duden-, den Kindernothilfe-, den Katholischen und den Coburger Medienpreis. Er wurde zum CNN-"Journalist of the Year" gekürt, er wurde geehrt mit dem Reemtsma Liberty Award, dem European Press Prize, er landete auf der Forbes-Liste der "30 under 30 - Europe: Media"Der Teufel scheißt auf den größten Haufen, sagt das Sprichwort. Für Journalismus-Preise und die Jurys, die sie verleihen, gilt es allemal. Das Magazin bemüht sich um Schadenbegrenzung, beginnt mit den Aufräumarbeiten und überprüft die Texte Relotius' (übrigens auch die Taz, für die er vor einigen Jahren schrieb). Der Spiegel will brutalstmöglich aufklären und berichtet selbst ausführlich und so detailliert über den Fall - so sehr, dass ich mich frage, ob der Spiegel nicht den Nachrichtenwert seiner schlampigen Arbeit noch ausschlachtet.
Stefan Niggemeier legt in seinem Kommentar den Finger in die Wunde, wenn er über den Leitartikel von Spiegel-Redakteur Ullrich Fichtner schreibt:
Sein Artikel kommt schonungslos daher, aber in Wahrheit ist er vor allem gegenüber dem Kollegen schonungslos. Was die eigene Rolle des Nachrichtenmagazins und seiner Kultur in dem Debakel angeht, ist er stellenweise erstaunlich selbstgerecht. Und die Art, wie Fichtner den Fall aufschreibt und daraus eine „Spiegel“-Geschichte macht, spricht dafür, dass er gar nicht erkannt hat, wie sehr gerade das Geschichten-Erzählen ein Problem in diesem Fall ist.Für die "gefährliche Kultur des Geschichtenerzählens", die Niggemeier kritisiert, sind Relotius' und Fichtners Arbeiten eindrucksvolle, aber eben extreme Beispiele. Claas Relotius hat es nur übertrieben mit dem Zurechtbiegen und Zuspitzen und Zusammensuchen. "Den Leser mitnehmen" und "Geschichten erzählen" sind, das kann ich bestätigen, zu journalistischen Kernkompetenzen geworden, sogar zur einer notwendigen Bedingung, um einen Beitrag veröffentlicht zu bekommen. Die Narrativierung der Berichterstattung beschränkt sich keineswegs auf die "Edelreportage", auf die sich die Kommentatoren gegenwärtig einschießen. Fast jeder Beitrag kommt heute mit szenischen und reportagehaften Elementen daher - der berühmte "atmosphärische Einstieg" zum Beispiel - ob es passt oder nicht, ob etwas erlebt wurde oder nicht. Ich habe schon Berichte von Archäologen-Kongressen gehört, in denen die Atmosphäre der Eingangshalle ausgemalt und die armen Wissenschaftler mit persönlichen Regungen versehen wurden ...
Um nicht missverstanden zu werden: was Claas Relotius getan hat, ist außergewöhnlich, unanständig und außergewöhnlich unanständig. Ein Thema anhand von Protagonisten und ihren Schicksalen zu präsentieren, als Geschichte zu erzählen, kann nützlich sein, weil es Interesse und Sympathien im Leser weckt. Hinter der Narrativierung steht ja gerade die Angst, dass bloße Fakten kein hinreichender Grund seien, einen Beitrag zu lesen. Die Geschichten sollen "den Leser mitnehmen". Dagegen wäre nichts zu sagen, wenn die Autoren nur wüssten, wohin sie den Leser mitnehmen wollen und warum sich die Reise lohnt.
Tatsächlich geben die preisgekrönten "meisterhaften Reportagen" Relotius' erstaunlich wenig her in Sachen Erkenntnisgewinn, scheint mir (ich kenne allerdings nur eine Handvoll.) Seine Protagonisten sind lebendig, weil phantaisievoll mit Details ausgestattet, aber letztlich doch Klischees. Der rechte Amerikaner ist beschränkt und stiernackig. Die Widerstandskämpferin eine eigensinnige, starke Persönlichkeit. Der aufständige Iraker ein bisschen deppert.
Nadim hat keinen dieser Verse vergessen. Er sitzt in seiner Zelle, er sagt sie nacheinander auf, wie schüchterne Kinder Gedichte aufsagen, zu Boden sehend, atemlos.Dass niemandem aufgefallen ist, wie sich in diesen Reportagen die Wirklichkeit widerspruchslos Vorurteilen fügt, spricht Bände.
Wer seine Protagonisten den Lesern nahe bringen will, muss sie zunächst selbst kennenlernen. Das dauert, klappt auch nicht immer, vielleicht will der Protagonist einfach nicht. Wie die deutsche-amerikanische Widerstandskämpferin Traute Lafrenz, die Relotius hartnäckig belästigte, schließlich zu einem Interview überredete, das laut Lafrenz und ihrer Tochter höchstens eine Stunde (!) dauerte, dann offenbar Relotius nicht lebendig und preiswürdig genug schien und ergänzt werden musste.
Der Protagonist ist nicht nur Objekt der Berichterstattung, er verfolgt eigene Ziele, wenn er mit dem Journalisten spricht. Manchmal entsteht eine interessante Beziehung zwischen den beiden. Die Reportage ist eine subjektive Form, der Journalist sammelt Eindrücke und erlebt etwas. Wenn er trotz der heutigen Arbeitsbedingungen dazu Zeit findet, erlebt er Dinge, mit denen er vorher nicht gerechnet hat. Er stößt auf Zwischentöne und Widersprüche. Das Leben schreibt allerhöchstens merkwürdige Geschichten.
Der Spiegel behandelt jetzt den Fall Relotius entsprechend der "Theorie vom faulen Apfel", ein moralisch verwerflicher Typ, von Eitelkeit oder Gier getrieben, ein Einzelfall, der mit den institutionellen Bedingungen nichts zu tun haben soll. Im Interview sagt Juan Moreno, der Spiegel-Autor, der den Fall ins Rollen brachte:
Er war eben der Starjournalist des deutschen Journalismus, wenn man ehrlich ist. Und wenn die Geschichten wahr wären, völlig zu recht.Nuff said.
Update: Kommentare mit ähnlicher Stoßrichtung sind erschienen im Freitag (Elsa Koester, "Sagen, was ist")
Relotius gab, was im Journalismus derzeit gewollt wird, was erfolgreich ist, und er gab es auch dann, wenn die Realität diese Story nicht mehr hergab. Was ist nun das Problem? Dass die Realität die Story nicht hergab – oder dass alle es so haben wollten, wie sie es sich ohnehin schon gedacht haben?und im Neuen Deutschland (Jürgen Amendt, "Aufschneiderei als Kerngeschäft")Der Spiegel hätte von Relotius etwas lernen können. Darüber, dass ein Journalismus, der nur nach Storys sucht, blind zu werden droht gegenüber einer Wirklichkeit, die kompliziert, widersprüchlich und – zum Glück – immer wieder überraschend ist. Anders, als man denkt.
Die im vergangenen Jahr erschienene Geschichte über den US-Football-Star Colin Kaepernick, der aus Protest gegen den Rassismus in den USA beim Abspielen der Nationalhymne niederkniete und deshalb von US-Präsident Trump angefeindet wurde, sei von Relotius »in weiten Teilen ausgedacht«, schreibt Fichtner. Statt »beharrlich an Zugängen zu arbeiten, träumt er sich hinein in Räume, die ihm verschlossen bleiben, in Turnhallen, zu denen er keinen Zugang bekommt, auch in Telefonate mit Kaepernicks Eltern. Die Einstiegsszene der Geschichte ist so geschrieben, als hätte Relotius in der ersten Reihe gesessen, aber er war gar nicht da.« Fichtner schreibt das und merkt offenbar gar nicht, dass dieser Befund auch auf ihn zutrifft!
Dienstag, 18. Dezember 2018
Fun fact # 33: Künstliche Intelligenz
Ein Drittel der Artikel beruht auf Presseerklärungen und Zitaten aus der IT-Industrie. Sie kommen sechs Mal so oft vor wie Regierungsquellen und doppelt so oft wie Quellen aus der Wissenschaft.
Montag, 3. Dezember 2018
Weltweit wächst der KI-Nationalismus - was macht die Bundesrepublik?
Für Telepolis habe ich einiges über die "Nationale Strategie Künstliche Intelligenz" zusammengetragen, die die Bundesregierung morgen verabschieden wird. Dass sie das im Rahmen des halböffentlichen "Digitalgipfels" tut, soll klar machen: Das ist Chefsache (beziehungsweise Chefin-Sache). Aber was wollen wir eigentlich mit der KI anfangen?
Mein Fazit, vorweg:
Weil sich die handels- und geopolitischen Spannungen verschärfen, fragmentiert der Weltmarkt für Digitaltechnik. Gerade im Bereich der Künstlichen Intelligenz hat ein neues technologisches Wettrüsten begonnen. Mit ihrer "Nationalen KI-Strategie" will die Bundesregierungen an die Weltspitze - ohne industriepolitisches Konzept, ohne Europa und ohne Rücksicht auf die gesellschaftlichen Folgen.
Teil 1: Globaler Wettlauf um die schlauesten Algorithmen
Teil 2: Die entscheidenden Fragen tauchen in der "Nationalen KI-Strategie" nicht auf
Fun fact # 32: Meinungsfreiheit
Social Media Intelligence für die Polizei
Mein Text beginnt mit einem bemerkenswerten Startup aus Wien namens Prewave.
„Künstliche Intelligenz trifft Risikoanalyse!“ So wirbt das Wiener Unternehmen Prewave für seine Dienstleistungen, darunter die Streik-Vorhersage anhand von Daten aus den Sozialen Medien. „Ein Streik kann definiert werden als eine geplante Aktion von Beschäftigten oder Gewerkschaften um die Arbeit anzuhalten oder zu verlangsamen“, heißt es in einem wissenschaftlichen Beitrag der Prewave-Gründerin Lisa Madlberger von 2016. Aber: „Schäden können durch rechtzeitige und effiziente Reaktion verringert werden. Allerdings geht oft wertvolle Zeit verloren, weil die Unternehmen zu spät von einem Streik bei ihren Zuliefern oder Transporteuren erfahren.“ Dagegen soll Prewave helfen, indem die Sozialen Medien in Regionen von Interesse systematisch ausgewertet werden, um sich anbahnende Arbeitsniederlegungen zu erkennen. Den Zulieferer zu wechseln, ist übrigens eine gängige Maßnahmen im Supply Change Management. Laut eigenen Angaben gehören zu den Auftraggebern der Firma „große Automobilhersteller, Banken, Logistikkonzerne und Reedereien“.Ein Blogger-Kollege von Netzpolitik hat sich übrigens bereits im September mit dieser Firma beschäftigt. Noch mal übrigens: das Startup wurde mit Steuergeldern gefördert. Streiks ins Leere laufen lassen hat mit polizeilichen Ermittlungen natürlich zunächst wenig zu tun. Aber das Beispiel Prewave zeigt eindrücklich, was Social Media Intelligence im Kern ausmacht: Massendaten aus der Internetkommunkation werden algoritmisch gefiltert und die gefundenen Muster mit statistischen Methoden in die Zukunft verlängert.Funktioniert so etwas? Vielleicht. Die Prewave-Algorithmen durchforsten Twitter, Facebook oder andere Plattformen. Zunächst werden die Texte sozusagen bereinigt, um sie im nächsten maschinell auszuwerten. Aus den Tweets oder Posts werden die Merkmale „Ort“, „Zeitpunkt“ und „Person / Organisation“ extrahiert. Weil es Prewave um die Streik-Vorhersage geht, schließt Person / Organisation in diesem Fall auch Berufsgruppen wie „Taxifahrer“ oder „Hafenarbeiter“ ein. Mit den festgestellten Häufigkeiten dieser Merkmale werden dann Prognosen erstellt.
Donnerstag, 29. November 2018
Montag, 26. November 2018
Montag, 19. November 2018
New Public Science Management
Dieser Markt für fadenscheinige akademische Reputationen konnte sich nur entwickeln, weil der Wissenschaftsbetrieb selbst längst kapitalistischen Marktkriterien unterworfen ist.Gronemeyer kritisiert die "neoliberale Wissenschaftspolitik". Analog zum New Public Management könnten wir sie vielleicht New Public Science Management nennen, mit der einschlägigen Kennzahlen-Fixierung und Standardisierung, aus denen das heutige wissenschaftliche Hordenverhalten resultiert.
Wenn die Lehre an den Universitäten aber finanziell ausgehungert wird und Forschungsgelder nur noch über Drittmittelanträge zu bekommen sind, dann werden auch nur noch die Themen bearbeitet, die in der science economy gerade Konjunktur haben.Eben. Angst führt gerade nicht zu riskantem Verhalten, wie es einer der Glaubenssätze der neoliberalen Ideologie will. Riskant muss echte Forschung aber sein, weil wir bei der vorher nicht wissen, was rauskommt, im Gegensatz zur Pseudo-Forschung. Merke: Angst führt zu Konformität (jedenfalls im Regelfall, bis zu gewissen Schwellenwerten ...). Und genau deswegen schreiben heute alle Promovenden und Docs und Post-Docs über das gleiche, zitieren dieselben Geistensgrößen und lassen die gleichen Buzz-Wörter fallen, mit denen sie die Geldgeber sich geneigt machen wollen. Eine Art Schwarmintelligenz in Hungerzeiten: "Da muss doch auch für mich noch ein Bröckchen abfallen!"
Ich kann Gronemeyer Kommentar Wort für Wort unterschreiben, bis auf seine Spitzen gegen Englisch als lingua franca der Wissenschaft. Er glaubt, sie sei schuld daran, "dass das Publikum gar nicht mehr beurteilen, ob das Ganze wirkliche Wissenschaft ist, die öffentliche Förderung verdient, oder doch nur Fake". Scheint mit heutzutage das kleinste Hindernis zu sein ...
Donnerstag, 15. November 2018
Dienstag, 13. November 2018
Neue Spielregeln für soziale Medien
Tatsächlich löschen und sperren Facebook und auch Google, Youtube und Twitter deutlich mehr als früher. Die sozialen Medien in eine unbequeme Rolle geraten: Sie müssen entscheiden, was rassistisch oder obszön ist, wo die Grenzen der Meinungsfreiheit verlaufen.
Fun fact # 31: Interessensharmonie
Freitag, 26. Oktober 2018
Dienstag, 23. Oktober 2018
"Die Roboter wissen nicht, was sie tun"
Schon befremdlich, einer zoomorphen Maschine beim Twerken zu zusehen ...
In der Süddeutschen weist Michael Moorstedt darauf hin, dass die so beliebten Roboter-Vorführungen nicht halten, was sie versprechen. Er erwähnt insbesondere die jüngste Vorführung von "Pepper" im britischen Parlament.
Sämtliche Fragen und Antworten, die im Verlauf der Konversation mit Pepper fielen, waren im Vorhinein abgemacht worden und dem Roboter fest eingeschrieben worden. Der Automat wurde per Smartphone-Kommando gesteuert.Geschichte wiederholt sich. Vor zwei Jahren habe ich in meinem Buch "Automatisierung und Ausbeutung" ausführlich die Faszination der veremeintlich denkenden Maschine untersucht. Sie nahm im 18. Jahrhundert mit Automaten wie dem Schachtürken ihren Anfang. Ich schreibe dazu im Kapitel "Kunstfertige Hochstapler":
Wenn die Automaten in die Öffentlichkeit treten, geschehen merkwürdige Dinge. Ihre Selbsttätigkeit erregt die Phantasie der Menschen so stark, dass es auf Details nicht anzukommen scheint. Die mehr oder weniger eingestandene Hochstapelei in der KI-Forschung und Robotik hat eine lange Geschichte. Wer einmal auf dieses Muster aufmerksam wurde, entdeckt es plötzlich überall, quer durch die Jahrhunderte.Und jetzt, nach ungefähr zwanzigtausend Artikeln über die rasenden Fortschrtte der Künstlichen Intelligenz erste Absatzbewegungen bei einem Leitmedium wie der Süddeutschen. Und was sagt der Artikel noch?... Um die Öffentlichkeit zu beeindrucken und den Eindruck von Leben und Autonomie zu erwecken, setzen die Automatenbauer die neueste Technik und die besten Herstellungsverfahren ein. Vaucanson beispielsweise gehörte zu den ersten, die eine mechanische Ablaufsteuerung benutzen. Kempelen nutzte Magnetismus zur Signalübertragung ins Innere des Schachautomaten. Die Automaten sind täuschend echt, aber eben auch echte Täuschungen. Dieses technikgeschichtliche Muster hat die überraschende Pointe, dass die Hochstapelei die technische Entwicklung voran bringt.
Wenn ich Anfang des 21. Jahrhunderts zurückschaue auf die vermeintlich intelligenten Automaten, von NAO über Eric Robot bis zum Schachtürken, kommt es mir vor, als sei es in diesem besonderen Fall nicht wahr, dass Geschichte sich nicht wiederholt. Die Argumente und die Akteure in der öffentlichen Debatte gleichen sich aufs Haar. Techniker versprechen mehr, als sie halten können, dem einfachen Volk und den Gebildeten bleibt vor Staunen der Mund offen stehen. Zwischen ihnen: Journalisten.
Die Automaten müssen nicht perfekt sein, um diese Wirkung zu haben. Das Publikum ahnt oder weiß sogar, dass die Erfinder Hochstapelei betreiben, aber fühlt sich nicht betrogen, sondern goutiert die Automaten wie einen Science-Fiction-Roman. Als der Schachtürke im Jahr 1784 in London präsentiert wurde, errieten einige Besucher sofort, dass in dem Apparat ein Mensch verborgen sein musste. Auf seiner Tournee durch die Vereinigten Staaten beobachteten in der Stadt Baltimore zwei Jugendliche vor der Vorführung, wie der Spieler in den Apparat hineinkletterte. Eine lokale Zeitung veröffentlichte diese Information. Aber das hinderte den Dichter Edgar Allan Poe nicht daran – der diesen Artikel möglicherweise sogar kannte! – einen länglichen Essay über die Mechanisierung des menschlichen Geistes zu verfassen. Die Automaten erregen eben unsere Fantasie über alle Maßen, und gerade ihre Unzulänglichkeiten sind das Langweilige an ihnen.
Ähnlich agiert auch der Roboterhersteller Boston Dynamics. Die ehemalige Google-Tochter veröffentlicht hin und wieder Videos, in denen ihre Roboter sagenhafte Dinge vorführen, etwa über einen Hindernisparcours laufen. Die meisten Zuschauer gehen davon aus, dass die Maschinen autonom handeln, und so finden sich in den Kommentarspalten zuverlässig Warnungen vor dem baldigen Aufstand der Roboter. Wie der Gründer nun zugab, zeigten die Aufnahmen jedoch das "typischerweise beste Verhalten". Heißt: Genau wie Pepper werden die Roboter ferngesteuert. Trotzdem brauchen sie bis zu 20 Versuche, bis die Aufnahme sitzt.Und ich so, vor gut zwei Jahren:
Über 19 Millionen Mal wurde dieses Video (von Boston Dynamics) betrachtet; viele Nachrichtenmedien nahmen es zum Anlass, über die rasenden Fortschritte der Robotik zu berichten. Einige Spielverderber wiesen allerdings darauf hin, dass der etwa zweieinhalb Minuten lange Film überraschend viele Schnitte enthält, weil die Firma die Stürze des Roboters und seine Fehlversuche der Weltöffentlichkeit lieber vorenthält.Erfolgreiche Journalisten reiten auf dem Hype wie auf ein Surfer auf einer Welle. Ich lerne das wohl nie.
Vor dem Epochenbruch
Weitere Beispiele lassen sich mühelos finden, deprimierend mühelos: Kippelement im prekären Verhältnis zwischen natürlichen Lebensgrundlagen und kapitalistischem Wachstum. Moore und Patel stellen die entscheidende Frage und dies mit der nötigen Ernsthaftigkeit: Wenn das kapitalistische Weltsystem sich als unfähig erweist, auf die Klimaerwärmung zu reagieren – und bis jetzt gibt es keinen Hinweis, dass es dazu in der Lage sein wird – was kommt dann?
Die Autoren von „Entwertung“ teilen nicht die Vorstellung, dass der Klimawandel über uns hereinbricht wie eine einzige große Naturkatastrophe. Aber sie verweisen mit Recht darauf, dass die notwendigen Anpassungsmaßnahmen unvereinbar sind mit den Wachstumsstrategien der letzten fünf Jahrhunderte. Das kapitalistische Weltsystem hat seine Entwicklungsmöglichkeiten erschöpft, so lautet ihr Fazit. Eine neue technisch-industrielle Revolution in der Naturaneignung ist nirgendwo in Sicht, weder die Digitalisierung, noch die Gentechnik auf dem Acker bieten dem Kapital einen Ausweg. Ein Zusammenbruch scheint daher deutlich wahrscheinlicher als ein ökologisch reformierter „Grüner Kapitalismus“. Diese These stößt auf starke Abwehr, auch unter Linken. Ich sage: Wer sie nicht teilt, muss Fakten beibringen.
Deshalb empfehle ich „Entwertung“, aber das Buch hat auch Schwächen. Die eine ist, dass die Autoren mit einigen stilistischen Mätzchen versuchen, ihre Grundannahmen an die Leser zu bringen. Aber weil sie die Theorie hinter ihrer Erzählung nicht erklären, wirken grundlegende Zusammenhänge wie bloße Behauptungen. Etwa das historische Muster, dass Arbeitskosten und Ressourcenpreise teurer werden, bis neue Gebiete und Stoffe in das Weltsystem integriert werden. Moore und Patel übernehmen diese Beobachtung aus der Weltsystem-Analyse (Immanuel Wallerstein, Giovanni Arrighi, Beverly Silver ...), aber sie erklären das nicht. Deshalb überzeugen sie nur diejenigen, die ihre Positionen ohnehin bereits teilen.
Überhaupt, ein populäres Sachbuch muss wie ein Motorroller sein, der schnell, elegant und wendig sein Ziel erreicht. Zu diesem Zweck darf man ihn nicht überladen. Leider wollen Moore und Patel dem Leser ganze LKW-Ladungen zustellen, aber sozusagen ohne dass er es bemerkt. Das geht schief und sie bleiben auf dem Weg öfter mal stecken.
Ich habe schon früher versucht, Jason Moores Arbeiten und seinen Ansatz in Deutschland bekannt zu machen (mit einer Übersetzung und einem Interview). Jason zeigt in seinen Untersuchungen, dass die kapitalistische Entwicklungsdynamik (= Krisendynamik) eine ökologische Seite hat. Neue Formen der Naturaneignung sind ebenso wichtig wie industrielle Revolutionen oder mit diesen verbunden. Das ist eine wichtige Erkenntnis.
Das Problem an Jasons Ansatz ist allerdings aus meiner Sicht, dass er gleichzeitig eine Art Feldtheorie der kapitalistischen Entwicklung und eine Dekonstruktion des Natur- und Menschenbegriffs sein soll. Daher das nervige und beharrliche Sägen an der Differenz zwischen menschlicher und nicht-menschlicher Natur, das er von seiner Gewährsfrau Donna Haraway übernimmt. „Weltökologische Perspektive = Weltsystemanalyse + Postmoderne“ urteilt Christian Stache kürzlich in dem Online- Magazin „Kritisch lesen“. Das ist allzu harsch (weil noch eine fundierte Umwelt- und Agrargeschichte hinzukommt), aber im Kern richtig.
Natur wird bei Moore nicht nur de facto ideologisch „vergesellschaftet“, d.h. als Produkt sozialer Beziehungen aufgefasst, damit ihrer relativen Unabhängigkeit und Eigenständigkeit beraubt und mit verdinglichten gesellschaftlichen Relationen – der sogenannten zweiten Natur – vermengt.Kurz, Jasons Weltökologie leidet darunter, dass er sie einer unausgegorenen Erkenntnistheorie überfrachtet. Ihr starkes Moment ist der holistische Ansatz einer Geschichte der kapitalistischen Naturaneignung und gesellschaftlichen Entwicklung - eine Entwicklung, die in die Sackgasse geraten ist.
Dienstag, 16. Oktober 2018
Dienstag, 9. Oktober 2018
"Die Wildwest-Zeiten in den Sozialen Medien beenden"
Die Gemengelage in der neuen Regulierungsdebatte ist komplex. Warum rufen Politiker in Europa nach mehr Aufsicht? An dem Geschäftsmodell der Plattformen kann das nicht liegen, denn das ist gleich geblieben: möglichst viele, möglichst aussagekräftige Nutzerdaten sammeln und veräußern. Als unfein oder fragwürdig gilt dies gilt erst, seit den politischen Eliten klar wurde, welche Macht die Sozialen Netzwerke bergen. Die russische Einflussnahme auf den amerikanischen Wahlkampf, später die Enthüllungen über die Datenanalyse-Firma Cambridge Analytica, wecken bei ihnen Ängste vor Desinformation, gezielt gestreute Gerüchte und Propaganda aus dem Ausland.
Bei den Initiativen auf EU-Ebene gegen die amerikanischen Anbieter Google und Facebook wiederum geht es weniger um Datenschutz oder Medienpolitik als um eine "digitale Industriepolitik". Europäische Plattformen sollen zu "Weltmarktchampions" werden, die irgendwann der amerikanischen Konkurrenz entgegentreten können. Man wolle "starke deutsche und europäische Akteure der Plattformökonomie", heißt es beispielsweise im Koalitionsvertrag der Bundesregierung. Gleichzeitig fürchtet gerade die deutsche Regierung und das deutsche Kapital (wegen ihrer extremen Exportabhängigkeit), dass die Handelskonflikte mit den USA eskalieren könnten, wenn die amerikanischen Konzerne wirksamer besteuert oder behindert würden.
Wäre ein europäisches Youtube besser als ein amerikanisches? Was wäre gewonnen, wenn deutsche Geheimdienste statt amerikanischer den Informationsfluss kontrollieren? Meine bescheidene Meinung: Wir brauchen echte Alternativen, "ein neuer Typus öffentlicher Institutionen, die physische und softwaretechnische Infrastruktur aufbauen und betreiben, ohne die private Aneignung von Gewinnen oder den Durchgriff der Exekutive zuzulassen", wie es Rainer Fischbach formuliert hat. Diese Netze müssten unabhängig von Staat und Parteiendemokratie sein, aber dennoch aus Steuermitteln oder Gebühren finanziert werden. Sie könnten auf personalisierte Werbung verzichten, könnten datensparsamer funktionieren und den Nutzerinnen und Nutzern transparente Filtermöglichkeiten bieten.
Labour-Parteichef Jeremy Corbyn hat übrigens vor kurzem medienpolische Forderungen und Ideen präsentiert, die in die richtige Richtung gehen: die journalistische Unabhängigkeit sichern, kommerzielle Interessen und die Einflussnahme finanzstarker Interessensgruppen zurückdrängen, alternative Medienproduzenten fördern.
Donnerstag, 4. Oktober 2018
Für eine sachgerechte Algorithmen-Kritik
Massendaten aus dem Internet werden für die Polizei und die Nachrichtendienste immer wichtiger. Mithilfe von Software wie Palantir verbinden die Behörden sie mit eigenen und externen Datenbanken. Big Data Überwachung nennt das treffend die Soziologin Sarah Brayne.
In dem Text für die Rosa-Luxemburg-Stiftung konnte ich auf viele Aspekte nicht eingehen. Einer von ihnen ist die sogenannte algorithmische Diskriminierung. Ich möchte das an dieser Stelle nachholen, weil sich um die Bedeutung der Algorithmen und ihre "Fairness" oder "Ungerechtigkeit" alle möglichen Mystifikationen und Missverständnisse ranken – und andererseits die Digitalisierung der Polizeiarbeit in Wirklichkeit durchaus Chancen für mehr Bürgerrechte und eine demokratisch kontrollierte Polizei bietet, die aber wegen des pauschalen Algorithmen-Bashings überhaupt nicht sichtbar werden.
Freitag, 21. September 2018
Dienstag, 11. September 2018
Mittwoch, 5. September 2018
Was hilft gegen die Macht der großen Internetplattformen?
Und überhaupt: was ist eigentlich das Problem? Die mögliche Einflussnahme ausländischer Mächte auf die einheimische Bevölkerung? (Geopolitische) Konkurrenz belebt das Geschäft. Die konsequente Steuervermeidung transnationaler Konzerne? Das tun andere Firmen auch. Die EU-Kommission stört an den "Internetgiganten" vor allem, dass es sich um amerikanische statt europäische Unternehmen handelt. Aus bürgerrechtlicher Perspektive macht das keinen Unterschied.
Mir geht es um etwas Grundsätzliches, nämlich um die Privatisierung weiter Teile der "öffentlichen Meinungsbildung". Ein privates Unternehmen eignet sich das Abbild unserer Interaktion an - eben die von uns erzeugten Daten -, macht es zu Geld und nutzt es außerdem für seine Technikentwicklung (KI).
Das ist kein individuelles Problem, à la "Meine Daten gehören mir". Unsere Daten gehören uns! Deshalb brauchen wir auch eine eigene Infrastruktur für sie - eine Infrastruktur die wir kontrollieren.
Ein steuerfinanziertes Facebook? Ein öffentlich-rechtliches Twitter? Für manche klingt das nach einem Schreckensszenario. Mit den sozialen Medien bekämen Regierungen ein mächtiges Instrument in die Hand, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk sieht sich ja schon jetzt der Kritik ausgesetzt, seinem Anspruch auf „Staatsferne“ oft nicht gerecht zu werden. Immerhin würde eine Finanzierung, die nicht auf Werbeeinnahmen beruht, mit einem Schlag eine Menge Probleme lösen, zum Beispiel kommerzielle Fake News, die mithilfe von Klickzahlen Einkommen generieren. Algorithmen, die Inhalte auswählen und sortieren, könnten transparenter gestaltet werden, weil sie die Nutzer nicht mehr in Richtung bestimmter Produkte stupsen müssten. Das vielleicht wichtigste Argument: Finanziell unabhängige Plattformen hätten keinen Anreiz mehr, möglichst viele Daten zu sammeln und zu monetarisieren.
Bei Netzpolitik ist übrigens gerade eine ausführliche und empfehlenswerte Zusammenfassung der Regulierungsdebatte erschienen.
Freitag, 31. August 2018
Fake Sciene oder Fake Journalism?
Die Forschungspolitik setzt seit Jahrzehnten entsprechend der Lehre vom New Public Management auf mehr Markt und Konkurrenz, auf Konzentration und die Steuerung über Kennzahlen wie Impact-Faktoren oder den Hirsch-Index, der das Ansehen eines Wissenschaftlers in seinem Fach anzeigen soll. Die erwartbare Folge: Forschungsergebnisse werden ausgewalzt, neu verpackt und verteilt, zurechtgebogen, teilweise gefälscht. Wer unbedingt Kennzahlen haben will, wird welche bekommen. Nur bedeuten sie irgendwann nichts mehr.So wurde die Wissenschaft zu einem der potemkinschen Dörfer des Neoliberalismus – messbare, nachgewiesene Exzellenz, während Schund hergestellt wird.
Ist ja kein Wunder. Zu den wenigen wissenschaftlichen Erkenntnissen, auf die ich zu wetten bereit bin, gehört die folgende aus der Organisationspsychologie: Je leistungsbasierter die individuelle Gratifikation, umso eher sabotieren die Beschäftigten die Arbeit ihrer Konkurrenten.
Ich erwähne in der Kolumne auch die Krise der Replizierbarkeit, kurz gesagt den peinlichen Umstand, dass sich ein großer Teil der wissenschaftlichen Ergebnisse nicht reproduzieren lassen. Eine Antwort auf diese Krise ist, wie immer mehr Transparenz sprich Kontrolle! Aber wissenschaftliche Ergebnisse zu replizieren, dauert länger und macht mehr Mühe als welche zu produzieren. Anders gesagt, schwache Evidenz wird erst veröffentlicht und dann mühsam wieder aus der Welt geschafft. Mir kommt dieses System nicht besonders effizient vor ...
Dienstag, 24. Juli 2018
Harald Martenstein, spaßig und katastrophenblind
Case in point: Harald Martenstein, der gut schreiben kann. Im Tagesspiegel und der Zeit verfasst Martenstein witzige Kolumnen, die sich locker weglesen und schmunzeln machen. In diesen Kolumnen behauptet er abstruses Zeug und manchmal auch richtig gefährliches Zeug. In der letzten Ausgabe des Zeit-Magazins glossiert er „Über das Wetter“. Liest sich gut und ist doch eine veritable Leugnung der Klimaerwärmung.
Hieß es denn nicht immer, als Folge des Klimawandels regnet es heftiger? Richtig, im Sommer 2017 … meldete sich in der ZEIT der Klimatologe Mojib Latif zu Wort: „Die Zahl der Extremniederschläge ist gestiegen.“ Sein Kollege Stefan Rahmstorf sprang ihm bei: „Daten aus den USA Europa und Australien deuten auf eine erhebliche Zunahme von Extremniederschlägen hin.“ … Der Klimawandel, der 2018 Brandenburg in die Provence verwandelt, war 2017 noch voll und ganz damit beschäftigt Deutschland in ein zweites Bangladesch mit ständigen Überschwemmungen umzumodeln. Wer im Juli 2017 im Glauben an die Klimatologen, einen Pfahlbau errichtete, um sich langfristig zu schützen, der ärgert sich jetzt.Witzig. Richtig witzig.
Wie sich das Klima regional verändern wird, lässt sich kaum prognostizieren. Dass es sich verändert – und zwar mit katastrophalen Folgen – erleben wir gerade. Hitzewelle und Dürre einerseits und Starkregen andererseits schließen sich überhaupt nicht aus. Es regnet insgesamt weniger, aber wenn es regnet, dann mehr in kürzerer Zeit (mit negativen Folgen für die Vegetation).
Richtig unanständig finde ich das. Stellt sich Martenstein blöd? Er geht über den Anstieg der Extremwetterlagen einfach weg – was stimmt denn nun eigentlich?– , um die alte Leier zu spielen vom Wetter, das eben macht, was es will, keiner weiß, ob es morgen regnen wird oder nicht, was wollen diese sogenannten Wissenschaftler überhaupt? Ich soll nicht mehr mit dem Auto zur Arbeit fahren? Da kann doch was nicht stimmen!
Wir führen dem Klimasystem mit dem fortgesetzten Verfeuern fossiler Brennstoffe Energie zu. Diese Energie muss irgendwo hin und bringt die eingespielten saisonalen Luftströme und Meeresströmungen durcheinander. Was ist daran schwer zu verstehen? Die letzten drei Jahre waren global die heißesten, seit die Temperaturen gemessen werden, und das Klima wird immer instabiler. Mir fällt es schwer, die Folgen zu beschreiben, ohne alttestamentarisch zu klingen. Es weden kommen Stürme und Fluten, Seuchen und Feuersbrünste. Hungernot Tod und Verderben."
Ich weiß, so etwas überzeugt niemanden – aber was um Himmels Willen überzeugt jemanden, der unbelehrbar witzig ist wie Harald Martenstein?
Polizei und Verfassungsschutz bei Facebook und Co.
Das Thema ist jüngst noch einmal tagesaktuell geworden, nachdem in Hessen ein Untersuchungsausschuss eingesetzt wurde, der nun klären soll, ob es bei der Anschaffung der Palantir-Software Gotham mit rechten Dingen (beziehungsweise rechtskonform) zuging. Zu den Fragen, die die hessischen Parlamentarier beantworten sollen, gehört allerdings ausdrücklich nicht, was die Polizei eigentlich mit dieser Software treibt und wie sich das mit den Bürger- und Persönlichkeitsrechten verträgt.
Die Grünen sind in diesem Bundesland übrigens an der Regierung beteiligt und enthalten sich jeder Kritik: Wie schon bei den neuen Landespolizeigesetzen gibt es keine Partei, die nicht an dem einen oder anderen Ort zum Ausbau der Überwachungskapazitäten beiträgt.
Montag, 23. Juli 2018
Datenkrake Polizei?
Polizeiarbeit dreht sich immer stärker um die Begriffe Risiko und Vorbeugung. Diese Entwicklung hat sicher damit zu tun, dass sich mit entsprechender Software Risikoprognosen erzeugen lassen. Aber die "präventive Wende" in der Polizeiarbeit wird weniger vom technischen Fortschritt als vielmehr dem erfolgreichen politischen Agieren der Sicherheitsbehörden angetrieben. Statt bereits begangene Verbrechen aufzuklären, soll die Polizei zukünftige verhindern - und zu diesem Zweck braucht sie angeblich mehr Eingriffsrechte.
Teil 1: Palantir als die Spitze des Eisbergs
Teil 2: Predictive Staatsschutz
Teil 3: "Vor die Lage kommen"
Donnerstag, 14. Juni 2018
Automatisierung und proletarische Erfahrung
Kräht der Linke auf dem MistAlte Bauernregel. Am Montag habe ich an der Berliner Humboldt-Universität einen Vortrag über "Automatisierungsgeschiche aus proletarischer Perspektive" gehalten. Nun habe ich ihn ausformuliert und ergänzt, um einigen Nachfragen aus der Diskussion Raum zu geben.
Ändert sich die Welt oder bleibt, wie sie ist
Mittwoch, 13. Juni 2018
Fun fact # 30: Pressefreiheit
Donnerstag, 7. Juni 2018
Nadel im Heuhaufen?
Die Digitalisierung verändert die Polizeiarbeit. Einerseits werden Massendaten aus dem Netz mit anderen Datenquellen zusammengeführt. Andererseits versuchen Programmierer, Psychologen und Kriminologen, aus den Massendaten immer tiefere Einblicke zu gewinnen. Sie wollen aus dem Online-Verhalten mithilfe von Maschinenlernen – also: Künstlicher Intelligenz – auf Emotionen, Haltungen und Persönlichkeit der Nutzer schließen.Die Audio-Datei findet sich hier.
Dienstag, 5. Juni 2018
KI als Fetisch
Wenn es an der historischen Untersuchung Matthias Beckers etwas zu kritisieren gibt, dann vielleicht der Aspekt, dass er angesichts der beschriebenen Entwicklungen in ihrem historischen Kontext zu gelassen bleibt. Allein am Ende scheint doch etwas Unruhe auf: "Es ist, als sei die Menschheit in ein zirkuläres Irresein geraten, aus dem sie nicht herauskommt. Rationalisierung ohne Sinn und Verstand." Ansonsten ist "Automatisierung und Ausbeutung" auch aufgrund des journalistischen Stils eines der gelungensten Bücher zum Thema - Becker wechselt zwischen eigenen Erfahrungen, historischen Recherchen und Industriereportagen und vermixt diese Aspekte zu einem großen Ganzen, indem er die verschiedenen beschriebenen Erfahrungen kontextualisiert. (...) Von solchen Dystopien ist Matthias Becker weit entfernt, ebenso wie er aus der Industrie 4.0 weder eine Dystopie noch wie viele ihrer Vertreter*innen eine Utopie macht. Trotz dieser scheinbaren "Neutralität" ist Beckers Einführung keineswegs trocken-deskriptiv.Übrigens hat der Soziologe Simon Schaupp im Freitag jüngst einen interessanten Beitrag veröffentlicht, in dem er, pünktlich zum zweihundertsten Todestag, Karl Marx für das Verständnis der Digitalisierung fruchtbar macht. Technik sei ein Fetisch in dessem Sinn:
Als Aufklärer sah sich Marx der Kritik an Gespenstergeschichten aller Art verpflichtet. Dazu zählte er nicht nur die Religion, sondern vor allem den von ihm so bezeichneten „Warenfetisch“. Der Begriff des Fetisches bezeichnet ursprünglich – in den Naturreligionen – den Glauben an die Beseelung unbeseelter Gegenstände. In den modernen Gesellschaften, so Marx, glauben wir, es läge in der Natur der Dinge, dass von der Karotte bis zum Lamborghini jedes Ding einen Geldwert hat. Ein eigentlich menschengemachtes Verhältnis tritt uns entgegen als eine Art autonomes Subjekt, das wie Frankenstein außer Kontrolle geraten ist.Das trifft es, finde ich, obwohl ich dem Fetischkritisieren mittlerweile egentlich, nun ja, kritisch gegenüberstehe. Schaupp schreibt weiter:
Den Status eines solchen Subjekts hat heute nicht nur das Warenverhältnis, sondern zunehmend auch die Informationstechnologie. Wir glauben nicht nur, dass unsere Computer „intelligent“ seien, wir glauben, sie seien Revolutionäre ... Mit Marx können wir fragen, woher die Digitalisierung ihren revolutionären Willen hat. Die Antwort lautet dann ebenso wie beim Warenfetisch: vom Menschen, der sie gemacht hat.Auch das scheint mir nichts Neues zu sein. Der Fetisch, der uns beseelt und autonom vorkommt, ist der Kapitalfetisch. Das Kapital hat sich die produktiven Möglichkeiten der Menschen scheinbar angeeignet. Die IT ist totes Kapital (in Gestalt der Maschine), aber auch verdingilchtes Wissen (in Gestalt der Software). Selbst letzteres ist nicht unbedingt neu, die ersten programmgesteuerten Maschinen entstanden schon im 18. Jahrhundert. Die Künstliche Intelligenz vertieft die Arbeitsteilung, hebt sie vielleicht an der ein oder anderen Stelle auf ein neues Niveau. Bekanntlich muss ein Beschäftigter heute nicht mehr unbedingt wissen, wie die Computerprogramme funktionieren, die ihn lenken, oder welche Informationen sie dabei zugrunde legen etc. . Das Wissen anderer Menschen, die diese Software abbildet, tritt ihm selbst im Arbeitsprozess als Fähigkeit des Kapitals entgegen.
Donnerstag, 31. Mai 2018
Fun fact # 29: Inlandsnachrichtendienst
Montag, 28. Mai 2018
Predictive Staatsschutz - Social Media Intelligence in Deutschland
Die Projekte der sogenannten Sicherheitsforschung ("Forschung für die zivile Sicherheit") haben bisher recht wenig öffenliche Aufmerksamkeit gefunden - erstaunlich, finde ich! Und: beunruhigend, finde ich. Denn die Versuche der automatisierten Radikalisierungsdetektion sind bürgerrechtlich hochgefährlich. "Radikalität" – hier verstanden als die Wahrscheinlichkeit, ein politisch motiviertes Verbrechen zu begehen – soll anhand sprachlicher Äußerungen gemessen werden. Aber - darauf muss scheinbar heutzutage wieder hingewiesen werden - weder Hass, noch radikale Ansichten sind verboten. Solche Systeme würden politische Haltungen identifizieren, möglicherweise sogar Persönlichkeitsmerkmal wie Aggressivität oder Ängstlichkeit. Es entstünden sozusagen Big Data-Stimmungsbilder, die gleichwohl wie mit einem Zoom auf einzelne Bürger vergrößert werden könnten.
Dies zunächst natürlich nur im Sinne technischer Kapazitäten. Ob die Polizei diese ausschöpfen darf, ist eine rechtliche Frage. Ein wichtiger Hinweis in diesem Zusammenhang: dass den Ermittlungsbehörden etwas verboten ist, heißt natürlich nicht, dass sie es nicht tun (gerade in einem Bereich, wo alle Fälle "irgendwie Grenzfälle" sind). Bürgerrechtliche und Datenschutz-Vorgaben müssen wirksam durchgesetzt werden, das ist heute keineswegs der Fall.
Dass Social Media Intelligence und die entsprechende Forschung eine zunehmend wichtige Rolle spielen, liegt nicht am technischen Fortschritt ("KI! BIG DATA!"). Dafür gibt es politische Gründe, nämlich ein zunehmend "nachrichtendienstliches Vorgehen" der Polizei. Sie soll bereits bei drohenden Gefahren einschreiten, sich dabei auf Prognosen stützen und Prävention leisten – und das funktioniert eben ohne vorbeugende Überwachung nicht.
Mittwoch, 23. Mai 2018
Donnerstag, 17. Mai 2018
Fun fact # 28: Klimaabkühlung
Dienstag, 15. Mai 2018
Wenn Google mithilfe Künstlicher Intelligenz gegen den Hass ankämpft
Freitag, 11. Mai 2018
Facebook, Twitter und Co.: Regulieren, aufspalten oder verstaatlichen?
Eine Internet-Plattform setzt Nutzerdaten in Wert. Sie verdient an Informationen - und das ist nicht wirklich einzusehen. Warum sollte eine Suchmaschine Geld dafür bekommen, dass sie weiß, was die Leute interessiert? Wieso darf sie - um nur ein Beispiel zu nennen - Künstliche Intelligenz mit Daten entwickeln, die sie geschenkt bekommt, und das fertige Produkt monetarisieren?Mir geht es vor allem um das Medienökonomische in diesem Text. Angetrieben wird die Reformdebatte aber von der Angst vor ausländischer Einflussnahme auf die einheimische Bevölkerung - "der Russe!" - und, allgemeiner gesagt, durch die immer schärferen zwischenstaatlichen Spannungen. Das World Wide Web zerfällt zusehends in "nationale Intranets", das Internet fragmentiert tendenziell. Das klingt dramatisch - aber es ist der Dramatik der Situation angemessen. Die großen Machtblöcke bekommen jeweils eigene Plattformen, eigene Shopping-Netzwerke, Instant Messaging- und Microblogging-Dienste und Blog-Anbieter. Russland sperrt Telegram, Frankreich entwickelt aus Angst vor Spionage einen eigenen Messenger, ebenso der Iran. Die Regierung kämpfen um die Kontrolle der Öffentlichkeit.
Sofern sie Datenhändler sind, informieren die Plattformen das Gemeinwesen darüber, was das Gemeinwesen denkt und tut und wie es sich fühlt. Es handelt sich also um ein Selbstgespräch, für das allerdings Gebühren anfallen. Die Plattformen verkaufen uns, was wir eigentlich bereits haben - ein echter Treppenwitz! Sie sind genau betrachtet nicht einmal kapitalistische Unternehmen im engen Sinne, sondern sozusagen die Grundherren des digitalen Raums, die "Informationsrenten" eintreiben (wie der Ökonom Ralf Krämer es nennt). Sie errichten einen Zaun um ihren Marktplatz und verlangen von den Händlern Eintrittspreise.