Montag, 12. August 2013

Gesunde Lebensführung als Pflicht?

Gesund wollen alle sein, und wenn sie es gerade nicht sind, wollen sie es schnell wieder werden. Aber wie kann ihnen das Gesundheitssystem dabei helfen? Die Regierung hat vor, die Bevölkerung gesetzlich zu einer gesunden Lebensführung anzuhalten – mit fragwürdigen Maßnahmen und dubiosen politischen Zielen.
In einem zweiteiligen Artikel, der gerade bei Telepolis erschienen ist (Teil 1, Teil 2), habe ich einige Hinweise zu Mythen und Wirklichkeit der Gesundheitsprävention zusammengetragen.

Mein Ausgangspunkt sind die Bemühungen, die Gesundheitssystem auf Prävention, also Vorbeugung und Früherkennung, auszurichten, wie sie seit etwa einem Jahrzehnt um sich greifen.

Das deutsche Präventionsgesetz würde das System hierzulande zwar massiv verändern (wahrscheinlich wird da vor Wahl nichts mehr daraus...), aber die dort enthaltenen biopolitischen Maßnahmen sind recht unkonkret. Anderswo ist das anders: 2002 rief der amerikanische Präsident George W. Bush den "War on Fat" aus. Als Renate Künast Bundesministerin für Verbraucherschutz war, wollte sie "Übergewicht zur Chefsache" machen. Vor vier Jahren diskutierten die Volksvertreter im amerikanischen Bundesstaat Mississippi ganz ernsthaft über ein Gesetz, durch das es für Restaurants illegal geworden wäre, fettleibige Kunden zu bedienen. Das Gesetz wurde letztlich nicht verabschiedet, vielleicht, weil es seiner Zeit voraus war. Überall kommt es zu staatlichen Eingriffen, um den Konsum von fettigem und süßem Essen zu vermindern. In der Stadt New York sollen Limonade-Becher ab einer bestimmte Größen verboten werden. In manchen Ländern werden "schädliche Lebensmittel" stärker besteuert oder mit Warnhinweisen versehen.

Warum ist das so? Warum reden alle über eine angebliche schlechte Ernährung, aber niemand über ökologische oder soziale "Noxe", sprich gesundheitsschädliche Faktoren?

Diese Frage stellen sich auch und gerade die medizischen Experten, die sich beruflich mit Public Health beschäftigen und sich daher dafür interessieren müssen, was die Bevölkerung wirklich krank macht oder im Gegenteil gesund erhält. In dem Text versuche ich herauszuarbeiten, dass einerseits banale ökonomische Interessen hinter dem "Präventionsdiskurs" stehen, dass diese aber nur deshalb "erfolgreich" sein können, weil die Argumente "ideologisch plausibel" sind:
Alle propagandistischen Bemühungen der Pillendreher, Therapeuten und Berufspolitiker wären wirkungslos, fänden sie nicht ein aufnahmebereites Publikum. Auch die Bevölkerung mag offenbar die Gesundheitsprävention. Diese Tatsache ist weniger leicht (durch ihre unmittelbaren Interessen) zu erklären. Sicher speist sich die Präventionsideologie aus einer modernen Form der protestantischen Ethik, aus der verbreiteten Überzeugung, dass Gesundheit nicht geschenkt, sondern erarbeitet wird. Dass der schöne Wahn kurz und die Reue lang ist. Im Bewusstsein der meisten Menschen entspricht "Vorbeugung" dem Verzicht auf "Genussmittel" und sie glauben, sie müssten Sport treiben, auch wenn er ihnen keinen Spaß macht, weil sie das für gesund sei.
Daher leuchten die propagierten Regeln einer gesunden Lebensführung vielen Menschen unmittelbar ein. Hilfreich ist dabei, dass die angeblichen Wirkungsketten einigermaßen leicht zu überblicken sind: "Willensschwäche" führt zu "Pommes rot-weiß" führt zu "Fettleibigkeit" führt zu "Diabetes Typ Zwo". Willensschwäche diagnostizieren wir allerdings vorzugsweise den anderen. Der unbedingte Glaube an die Macht des richtigen Verhaltens erlaubt es mithin, auf die Fetten, die Trinker und die Verlierer insgesamt herabzusehen, die uns angeblich auf der Tasche liegen.
Das alles ist noch etwas ins Unreine geschrieben, mir fehlt, ehrlich gesagt, selbst noch eine wirklich schlüssige Erklärung. Sicher bin ich mir, dass eine Kritik der staatlichen Biosozialpolitik auch die breite Bevölkerung in den Blick nehmen muss. "Solange es Patienten gibt, wird es auch Ärzte geben", schreibt Raymond Chandler. "Neoliberalismus" wird nicht einfach von oben aufgezwungen: Er durchdringt die Menschen und verändert ihre Haltungen und Handlungen.

Der Glaube an die Macht der Vorbeugung speist sich, auf einer noch allgemeineren Ebene, aus der Wahrnehmung von Gesundheit als Produkt. Deshalb mutet uns ein Gedanke zum kranken Körper völlig überholt an: er sei ein Schicksal, das wir nur annehmen und ertragen können. Wenigstens "im Prinzip" soll alles heilbar sein. Das Ziel "Gesundheit" scheint immer erreichbar, würden nur genug und die richtigen Mittel eingesetzt. Selbst die Diskurse, die fasziniert sich um eine körperliche Programmierung des Menschen kreisen (wie die Humangenetik und Hirnneurologie) werden so gewendet, dass auf erhöhte Risiken mit verstärkter Prävention geantwortet werden muss. Ein kontemplatives Körperverhältnis ist unmöglich.

Das moderne „esoterische Denken“ unterscheidet sich übrigens in diesem „Machbarkeitswahn“ keineswegs vom „naturwissenschaftlich-medizinischem Denken“; es ist seine Entsprechung, nur eben mit einer Methodik, die auf abstrusen Wirkungszusammenhängen beruht. Es ist daher einleuchtend, dass sich schwer und unheilbar kranke Menschen sehr oft in beiden Denkwelten bewegen und etwa die Chemotherapie mit den Bachblüten ergänzen. Sowohl die esoterische wie die medizinische Praxis bieten Heilungsmethoden an, die dem Gesundbeten entsprechen. Es ist ein Gesundbeten ohne Gott. An wen richten sich diese Gebete?