Dienstag, 23. Oktober 2018

Vor dem Epochenbruch

Gestern Abend brachte Andruck / Deutschlandfunk Kultur meine Lobpreisung von „Entwertung – Ein Geschichte der Welt in sieben billigen Dingen“ von Jason Moore und Raj Patel. „Ein Buch zur Zeit“, lautet mein abschließendes Urteil – und das ist „Entwertung“ wirklich, in mehrfacher Hinsicht. Letzten Samstag wurde gemeldet, dass Thyssen-Krupp und die BASF ihre Produktion zurückfahren müssen, weil der Pegel des Rheins niedrig ist wie nie zuvor. Wenn die deutschen Flüsse in Zukunft immer seltener zum Gütertransport zu gebrauchen sind, wird die Industrie auf Anlieferung über die Straßen ausweichen – also noch mehr Treibhausgase produzieren und die Klimaerwärmung weiter vorantreiben.

Weitere Beispiele lassen sich mühelos finden, deprimierend mühelos: Kippelement im prekären Verhältnis zwischen natürlichen Lebensgrundlagen und kapitalistischem Wachstum. Moore und Patel stellen die entscheidende Frage und dies mit der nötigen Ernsthaftigkeit: Wenn das kapitalistische Weltsystem sich als unfähig erweist, auf die Klimaerwärmung zu reagieren – und bis jetzt gibt es keinen Hinweis, dass es dazu in der Lage sein wird – was kommt dann?

Die Autoren von „Entwertung“ teilen nicht die Vorstellung, dass der Klimawandel über uns hereinbricht wie eine einzige große Naturkatastrophe. Aber sie verweisen mit Recht darauf, dass die notwendigen Anpassungsmaßnahmen unvereinbar sind mit den Wachstumsstrategien der letzten fünf Jahrhunderte. Das kapitalistische Weltsystem hat seine Entwicklungsmöglichkeiten erschöpft, so lautet ihr Fazit. Eine neue technisch-industrielle Revolution in der Naturaneignung ist nirgendwo in Sicht, weder die Digitalisierung, noch die Gentechnik auf dem Acker bieten dem Kapital einen Ausweg. Ein Zusammenbruch scheint daher deutlich wahrscheinlicher als ein ökologisch reformierter „Grüner Kapitalismus“. Diese These stößt auf starke Abwehr, auch unter Linken. Ich sage: Wer sie nicht teilt, muss Fakten beibringen.

Deshalb empfehle ich „Entwertung“, aber das Buch hat auch Schwächen. Die eine ist, dass die Autoren mit einigen stilistischen Mätzchen versuchen, ihre Grundannahmen an die Leser zu bringen. Aber weil sie die Theorie hinter ihrer Erzählung nicht erklären, wirken grundlegende Zusammenhänge wie bloße Behauptungen. Etwa das historische Muster, dass Arbeitskosten und Ressourcenpreise teurer werden, bis neue Gebiete und Stoffe in das Weltsystem integriert werden. Moore und Patel übernehmen diese Beobachtung aus der Weltsystem-Analyse (Immanuel Wallerstein, Giovanni Arrighi, Beverly Silver ...), aber sie erklären das nicht. Deshalb überzeugen sie nur diejenigen, die ihre Positionen ohnehin bereits teilen.

Überhaupt, ein populäres Sachbuch muss wie ein Motorroller sein, der schnell, elegant und wendig sein Ziel erreicht. Zu diesem Zweck darf man ihn nicht überladen. Leider wollen Moore und Patel dem Leser ganze LKW-Ladungen zustellen, aber sozusagen ohne dass er es bemerkt. Das geht schief und sie bleiben auf dem Weg öfter mal stecken.

Ich habe schon früher versucht, Jason Moores Arbeiten und seinen Ansatz in Deutschland bekannt zu machen (mit einer Übersetzung und einem Interview). Jason zeigt in seinen Untersuchungen, dass die kapitalistische Entwicklungsdynamik (= Krisendynamik) eine ökologische Seite hat. Neue Formen der Naturaneignung sind ebenso wichtig wie industrielle Revolutionen oder mit diesen verbunden. Das ist eine wichtige Erkenntnis.

Das Problem an Jasons Ansatz ist allerdings aus meiner Sicht, dass er gleichzeitig eine Art Feldtheorie der kapitalistischen Entwicklung und eine Dekonstruktion des Natur- und Menschenbegriffs sein soll. Daher das nervige und beharrliche Sägen an der Differenz zwischen menschlicher und nicht-menschlicher Natur, das er von seiner Gewährsfrau Donna Haraway übernimmt. „Weltökologische Perspektive = Weltsystemanalyse + Postmoderne“ urteilt Christian Stache kürzlich in dem Online- Magazin „Kritisch lesen“. Das ist allzu harsch (weil noch eine fundierte Umwelt- und Agrargeschichte hinzukommt), aber im Kern richtig.

Natur wird bei Moore nicht nur de facto ideologisch „vergesellschaftet“, d.h. als Produkt sozialer Beziehungen aufgefasst, damit ihrer relativen Unabhängigkeit und Eigenständigkeit beraubt und mit verdinglichten gesellschaftlichen Relationen – der sogenannten zweiten Natur – vermengt.
Kurz, Jasons Weltökologie leidet darunter, dass er sie einer unausgegorenen Erkenntnistheorie überfrachtet. Ihr starkes Moment ist der holistische Ansatz einer Geschichte der kapitalistischen Naturaneignung und gesellschaftlichen Entwicklung - eine Entwicklung, die in die Sackgasse geraten ist.