Dienstag, 11. August 2020

Es ist übrigens gar nicht so abwegig, die ökologische Rolle des Menschen in seinem Verhältnis zu anderen Lebensformen als eine Krankheit anzusehen. Seit die menschliche Sprache den Eingriff in die uralten Prozesse der biologischen Entwicklung gestattete, befand sich der Mensch in einer Lage, in der er ältere Gleichgewichtsverhältnisse der Natur praktisch in der gleichen Weise stören konnte, wie eine Krankheit das natürliche Gleichgewicht im Körper des von ihr Befallenen stört. Hin und wieder kam es vorübergehend zu einer annähernden Stabilisierung der neuen Verhältnisse, wenn den Verwüstungen durch den Menschen natürliche Grenzen gesetzt waren. Doch früher oder später, und immer in sehr kurzen Zeitspannen im Vergleich zu den Normen der biologischen Entwicklungsgeschichte, entdeckte die Menschheit neue Verfahren zur Ausbeutung frischer, bis dahin unzugänglicher Vorräte, wodurch sie den Schaden an anderen Lebensformen erneuerte oder erhöhte. Vom Standpunkt anderer Organismen aus betrachtet, ähnelt also der Mensch durchaus einer akuten epidemischen Krankheit, deren gelegentliches Zurückweichen zu weniger virulenten Erscheinungsformen noch nie ausgereicht hat, ein wirklich stabiles, dauerhaftes Verhältnis herzustellen.

William H. McNeíll (1978) Seuchen machen Geschichte. Geißeln der Völker. München: Udo Pfriemer Verlag. Seite 32.