Sonntag, 8. August 2010

Verwahrt, gesichert, untergebracht


Vor zwei Jahren begann ich mich für die "Sicherungsverwahrung" zu interessieren. Mittlerweile habe ich insgesamt drei Radiobeiträge darüber hergestellt und dabei das ein oder andere erfahren. Nun ist das Thema (mangels eines anderen?) zum Sommerhit der deutschen Öffentlichkeit geworden, zum diesjährigen Sommermärchen von den Triebtätern, der Gefahr und der Sicherheit. Ein paar Anmerkungen ...
Die schärfste Waffe, die das deutsche Strafrecht kennt

Die Maßnahme stammt aus der Willkürjustiz der Nazis (auch wenn viele andere Länder vergleichbare Sanktionen kennen). Die "schärfste Waffe" oder "eingreifendste Sanktion", die der Souveränität gegen die Bevölkerung zur Verfügung steht, ist die Sicherungsverwahrung deshalb, weil sie nicht mehr vom Gesetzesverstoß ausgeht (der nun entprechend der Schwere der Schuld geahndet wird), sondern von der Persönlicheit des Täters, seinem "Hang zu schweren Straftaten", wie es das Gesetz formuliert. Der Täter gilt als unbelehrbar, "durch Strafe nicht zu beeindrucken", kurz gesagt: Dem Richter reißt der Geduldsfaden und er läßt den Angeklagten bis auf weiteres im Knast verschwinden.

Einen wie mich, der den staatlichen Organen ziemlich alles, aber wenig Gutes zutraut, muss die Sicherungsverwahrung deshalb interessieren: Sie bezeichnet eine der liberalen Begrenzungen der Staatsmacht, und ihre Entgrenzung bedroht längst nicht nur pädophile Mörder. Jetzt werfen CDU/CSU-Funktionäre Vorschläge in die Debatte wie den, ehemalige Gefängnisinsassen im Rahmen der Führungsaufsicht mit Videokameras und Funkfesseln zu überwachen oder die Verdachtshaft auf "Staatsschutzdeliktte wie Terrorismus auszuweiten". Was eigentlich bedeutet "Polizeistaat", wenn nicht die Überwachtung von verdächtigen Personen, ohne dass denen irgendetwas zu Last gelegt werden kann?
Gleichzeitig demonstrieren zahlreiche Politiker und Gerichte, dass ihnen Recht und Gesetz schnuppe sind. Statt die Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte umzusetzen, setzen sie auf Verschleppung und Verzögerung, und Innenminister de Maziére schlägt eine "Sicherungsunterbringung" vor. Die Verwahrten würden sich "freiwillig einsperren lassen", was aber trotzdem irgendwie keine Freiheitsentziehung sein soll ...

Die Ausweitung der Präventivhaft steht nicht nur für eine autoritärer werdende Strafjustiz, sondern noch für eine andere Entwicklung: der zunehmenden Pathologisierung von abweichendem Verhalten. Die Gerichte bescheinigen den Tätern ja ausdrücklich, nicht verrückt, sondern zurechnungsfähig und also schuldfähig zu sein - sonst könnte man sie in den geschlossenen Abteilungen der Irrenhäuser unterbringen! Die bundesdeutsche Justiz hat in der Vergangenheit aus Bequemlichkeit häufig diesen Ausweg gewählt und Nicht-Verrückte als verrückt klassifiziert, um sie auf unbestimmte Zeit aus der Gesellschaft zu entfernen. Nun aber verbreitet sich immer mehr der Begriff der "Persönlichkeitsstörung", demzufolge "diese Unglücklichen nicht nur eine minderwertige Gesundheit, sondern auch eine minderwertige Krankheit" haben, wie es Robert Musil einst ausdrückte. Obwohl die Täter die Wirklichkeit nicht wahnhaft verzerren und ihre Handlungen eigentich kontrollieren können, sollen sie doch irgendwie krank sein. Ihre Bedürfnisse und Handlungsmuster sollen durch Therapien veränderbar sein.
In der Wirklichkeit der deutschen Gefängnisse findet diese modische Idee allerdings keine Anwendungen. Gerade die Sicherungsverwahrten bekommen keine Therapien angeboten. In den Anstalten gelten sie, ganz wie früher, als unbelehrbare Berufs- und Gewohnheitsverbrecher. Trotzdem spielen Psychiater eine immer größere Rolle im Ablauf der Sicherungsverwahrung. Sie stellen anhand psychologischer Kriterien die Gefährlichkeitsprognose. Die entsprechenden Verfahren stammen letztlich aus der Versicherungslogik: die Individuen werden in Risikogrupen eingeteilt. Die moderne versicherungsmathematische Eingruppierung ergänzt die Stigmatierung durch die Justiz. Ideologisch werden die Verbrecher werden immer mehr pathologisiert, praktisch im Knast verwahrt, weggesperrt und vergessen.

"Kann mir vielleicht irgendwer erklären, worum es hier überhaupt geht?"

Seit 1998, als das Sexualstraftäterbekämpfungsgesetz erlassen wurde, hat sich die Zahl der Anordnungen fast verdreifacht. Von den etwa 76 000 Gefängnisinsassen sind gegenwärtig 511 in Verwahrung. In einem Dutzend Fällen wurde die SV nachträglich verhängt. (Ungefähr 1.800 Personen verbüßen außerdem eine lebenslange Freiheitsstrafe; von ihnen ist aber gar keine Rede.) Von den Sicherungsverwahrten sprechen die Politker gern in Superlativen: "hochgefährlich", "Schwerstverbrecher", "therapieresistent". In Wirklichkeit werden sie nicht häufiger rückfällig als andere ehemalige Gefängnisinsassen, die wegen schwerer Straftaten einsaßen, nämlich in 15 bis 25 Prozent der Fälle.
Nach Freilassung von Schwerverbrechern geht in Marburg die Angst um - Seitdem die Männer in Marburg leben, ist die Spielstraße im Stadtwald verwaist. Frauen und Kinder sind nur noch selten in den Gärten der angrenzenden Reihenhäuschen zu sehen

Es handelt sich in dieser Meldung von gestern wohlgemerkt "um einen um einen 57-Jährigen, der eine Zwölfjährige missbraucht hat, und einen 53-Jährigen, der wegen versuchen Raubmords hinter Gittern saß"! Die Ängste, die auf die ehemaligen SVer projiziert werden, sind völlig irrational. Jedes Jahr kommt es zu Zehntausenden Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Laut Ursula Enders von der Beratungsstelle 'Zartbitter' sind die Mißbraucher von Mädchen in etwa 30 Prozent der Fälle Verwandte, und in 60 Prozent der Fälle gehören sie zu deren 'sozialen Nahbereich'. Es sind Familienfreunde, Sporttrainer, Lehrer. Sexuelle Gewalt ist Alltag, und wer seine Kinder vor ihr schützen will, sollte besser den Onkel nicht aus den Augen lassen.