Sonntag, 27. Juni 2021

Der sogenannte effiziente Markt

Ein englischer Whistleblower von Amazon hat bestätigt, was seit langem ein offenes Geheimnis ist: Um Lagerkosten zu sparen vernichtet der Konzern in großem Umfang neue funktionsfähige Ware. In der Woche seien es etwa 130 000 Artikel, die zerstört würden: Ventilatoren, Staubsauger, Macbooks und iPads, Corona-Masken, Lebensmittel ... 

Ein extremes Beispiel für einen Grundzug unseres Wirtschaftssystems: Der mögliche Nutzen von Waren ist den Unternehmen gleichgültig, sofern er nicht Umsatz und Gewinn steigert. Diese strukturelle Ignoranz ist nicht nur ethisch, sondern auch ökologisch problematisch. In meinem Buch Klima - Chaos - Kapital liste ich eine Reihe von Beispielen auf:

Täglich sind Lobeshymnen auf die Weisheit, Flexibilität und Kreativität von Märkten zu hören. Aber in kapitalistischen Märkten ist Verschwendung rational und effizient. Kleidung, Waschmaschinen, Kühlschränke, Küchengeräte, Computer und Unterhaltungselektronik werden immer kürzer genutzt. Gebrauchsgegenstände werden so gestaltet, dass sie nach einer gewissen Zeit unbrauchbar werden und sich nicht reparieren lassen. Verschleißteile können nicht ausgetauscht werden, zum Beispiel die Akkus von Mobiltelefonen.

Die Digitaltechnik hat die Möglichkeiten zu dieser Gebrauchswertverhinderung noch vergrößert. Geräte können nicht mehr benutzt werden, nur weil die Steuerungsprogramme nicht aktualisiert werden. US-amerikanische Bäuer*innen zahlen Höchstpreise für alte Traktoren ohne digitale Steuerung, weil sie diese Fahrzeuge noch selbst reparieren können.

Beispiel Nahrung: In Deutschland werden jedes Jahr 12 Millionen Tonnen Lebensmittel weggeworfen. Über ein Drittel dieser Nahrungsmüllhalde entsteht bei der Produktion, der Weiterverarbeitung und im Handel. Andererseits bleiben produktive Potentiale ungenutzt, wenn sie nicht profitabel (genug) sind. Realistische Schätzungen gehen davon aus, dass Landwirte ein Fünftel der möglichen Erträge nicht ausschöpfen, weil sich die Steigerung der Ernte für sie finanziell nicht lohnt.

Das gegenwärtige Agrarsystem produziert erfolgreich Mehrwert, aber ziemlich wenig Nährwert. „Die globale essbare Ernte an Kulturpflanzen entspricht etwa 4600 Kilokalorien pro Person und Tag. Nur etwa 2000 stehen tatsächlich für den Konsum zur Verfügung. Nach der Ernte entsteht ein Nettoverlust von 600 Kilokalorien (darin sind auch verdorbene Vorräte und Lagerbestände erfasst). Durch Vertrieb und im Haushalt kommen weitere 800 Kilokalorien Verluste hinzu und durch die Umnutzung von Kulturpflanzen zu Tierfutter sogar 1200 Kilokalorien.“ Laut einer Berechnung von Philip McMichael benötigt die industrielle Landwirtschaft etwa 10 bis 15 Kalorien Energie, um eine einzige Kalorie Nahrung herzustellen.

Bei der „Veredelung“ von Getreide in Fleisch müssen für jede Kalorie tierisches Protein sogar achtmal so viele pflanzliche Proteine eingesetzt werden. Um den Verbrauch fossiler Energieträger zu veranschaulichen, hat der Journalist Michael Pollan ausgerechnet, dass für die Zucht eines Ochsen von der Geburt bis zur Schlachtung ungefähr eine Tonne Erdöl verfeuert wird.

Verschwendung ist in diesem System strukturell angelegt. Denn die Produktionskapazitäten müssen ausgelastet, Absatz und Umsatz gesteigert werden - genug ist niemals genug. Wenn alle Haushaltsmitglieder über mindestens einen Fernseher verfügen, wächst die Auflösungsrate der Farbpunkte auf dem Bildschirm. Wenn alle Erwachsenen ein Auto besitzen, muss dieses größer, schwerer, schneller werden … irgendwie besser.

In deprimierend vielen Fällen folgte die Nachfrage dem Angebot (das heißt: der Überkapazität), nicht umgekehrt. Die größere Erntemenge bei der Getreideproduktion erzwang geradezu die Verwendung als Tierfutter, um sie zu Fleisch- und Wurstwaren zu „veredeln“. Die Überschüsse der Geflügelzucht führten zu McNuggets, Kentucky Fried Chicken und ähnlichen Fleischwaren. Die Überschüsse auf den Maisfeldern revolutionierten unsere ganze Ernährungsweise, wie der Filmmacher Curt Ellis in seiner Dokumentation „King Corn“ herausarbeitet:

„In den 1970ern wurden enorme Steigerungen der Erträge erreicht. Deswegen schien alles hilfreich, um diese gigantischen Maisberge abzutragen. Wie der Maissirup, der sich nun in Tausenden Produkten findet. Er ist überall, er ist in deiner Spaghettisoße oder in einem Laib Brot.“