Montag, 18. November 2013

„Nötig ist mehr Forschung“

"Sexismustief nähert sich vom Atlantik"
Forschung ist wie Kokain: nie ist genug davon da! Schon immer haben die Studierenden auf den letzten Metern ihrer Abschlussarbeit stereotyp darauf hingewiesen, dass jetzt zwar einige, aber noch längst nicht alle Fragen geklärt seien. Dieses inkrementelle Wissenschaftsverständnis hängt mit der universitären Arbeitspraxis zusammen, auf vielfältige und widersprüchliche Art.
Natürlich ist das eigene Forschungsthema immer das wichtigste, unvermeidlich gesellschaftspolitisch bedeutsam, sogar unverzichtbar. Das war wohl schon immer so, seit es Akademikerinnen und Akademiker gibt. Heutzutage hat der Staat allerdings immer weniger Geduld. Was die Wissenschaftler denken, soll nützlich sein, spätestens morgen. Übermorgen wäre schon zu spät, und Byzantinistik braucht angeblich kein Mensch mehr.

Nur, seltsam, ein Feld bleibt davon ganz ausgeschlossen, nämlich die akademische Bearbeitung der sozialen und ökologischen Widersprüche. Hier ist es nicht opportun zu fragen, inwiefern die Erkenntnisse eigentlich dazu taugen, den jeweiligen Missstand abzustellen. Ein ganz wunderbares Beispiel dafür scheint mir zu sein, was die Sozialpsychologin Julia Becker / Universität Osnabrück vorhat. Sie will ein Modell zur Vorhersage sexistischenVerhaltens bauen.
Im ersten Schritt sollen anhand der vier Kernformen sexistischer Einstellungen vier korrespondierende Formen sexistischer Verhaltensweisen erarbeitet werden. … Da Verhalten allerdings nicht allein abhängig von Einstellungen ist, sondern auch durch den situativen Kontext beeinflusst wird, besteht das zweite Ziel in der Entwicklung eines Klassifikationsschemas, das Situationen darstellt, die den Ausdruck sexistischen Verhaltens zur Folge haben. In einem dritten Schritt soll die Forschung zu den vier Kernformen sexistischer Einstellungen mit dem erstellten Schema von Situationen verknüpft werden, um experimentell zu überprüfen, ob die vier Formen sexistischen Verhaltens am besten durch die Wechselwirkung von Personen- und Situationsvariablen vorhersagbar sind.
In diesem Zusammenhang, ich kenne da ein Phasenschema, das relevant sein könnte:

… Soziales Problem - Forschungsförderung - Wissenschaft - Schublade - Soziales Problem - Forschungsförderung …

Modelle sind beliebt, egal ob es um die Auswirkungen des Klimawandels auf die deutschen Städte geht, um die Übertragungswege von Feinstaub, um Migration, Armut oder eben Sexismus.Genauer gesagt: außer Modelle bauen ist nichts beliebt! Besonders prognostische Modelle sind da populär, vielleicht weil sie aus Prinzip nicht auf die Gegenwart zielen, sondern die Zukunft vorhersagen sollen (was ihnen übrigens selten gelingt). Variablen werden sortiert, Verhalten klassifiziert und Sexismus prognostitiziert. Denn wenn wir erst ein Modell haben, dann wird unabweisbar, dass besonders neurozitistische Männer vorzugsweise nachmittags diskriminieren.  

Das ist wie die Wettervorhersage: Wenn ich abends in der Tageschau höre, dass es morgen kalt wird, zieh ich mir die dicke Jacke an. Aber da geht es ums Wetter, und das ist weitgehend Schicksal. Worin besteht der Gebrauchswert der sozialen Wettervorhersage?

Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, warum Forschung dieser Art gefördert wird. Sie ist dazu da, einen Eingriff in den Status quo aufzuschieben. Insofern ist die modellierende Wissenschaft, scheint mir, Teil des Problems, nicht Teil der Lösung. Sie ist eine Art Wurmfortsatz der Staatsapparate. Selige Zeiten, als sich die akademischen Angestellten noch mit abgelegenen Fragestellungen wie der Byzantinistik beschäftigen durften.