Mittwoch, 15. September 2010

Wie zurechnungsfähig ist die deutsche Justizpolitik?


Der Irrsinn um die Sicherungsverwahrung geht weiter (wenn er auch mittlerweile weniger die "große Politik" als die Provinz beschäftigt). Eine kurze Zusammenfassung der Entwicklung - nur um deutlich zu machen, warum "Irrsinn" genau das richtige Wort ist:

Seit 1998 steigt in Deutschland die Zahl der Sicherungsverwahrten sehr schnell an, obwohl es nicht mehr Morde, Vergewaltigungen oder Kindstötungen gibt. Mittlerweile sind die Rechtsgrundlagen für die Anordnung der Sicherungsverwahrung (SV) so unüberschaubar geworden, dass Fachleute, die es wissen müssen, behaupten, dass "da niemand mehr wirklich durchblickt".

Spätestens seit 2008 werkeln deshalb verschiedene Arbeitsgruppen der Justizministerien der Länder an einer Reform, um die SV handbar zu machen. Teilweise erklären sie, damit die Anwendung auf wirklich schwere Taten und wirklich gefährliche Täter beschränken zu wollen. Bis 1998 mussten alle Verwahrten nach 10 Jahren entlassen werden. Danach wurde die SV aber für eine große Menge von Verwahrten einfach weitergeführt. Eben sie sind die sogenennanten "Altfälle", die nun nach und nach entlassen werden). Im Dezember 2009 urteilte der Europäische Menschengerichtshof, dass diese Verlängerung der SV nicht rechtsmäßig sei. Deutschland ging in Revision, obwohl es dafür eigentlich keine Erfolgsaussichten gab. Im März 2010 mahnte unter anderem der bekannte Kriminologe Arthur Kreutzer in der FAZ:
Die Bundesregierung will sich dem Urteil einer Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht beugen. Aber alles spricht dafür, dass es bei deren Sachentscheidung zur Unzulässigkeit einer rückwirkend angewendeten Sicherungsverwahrung bleibt. (...) Wir müssen uns also darauf einstellen, dass demnächst diese überwiegend wahrscheinlich tatsächlich gefährlichen Gefangenen freizulassen, engmaschig zu kontrollieren, außerdem zu entschädigen sein werden. Es sind siebzig bis hundert Gefangene, die lange Strafen und bis zu zehn Jahre zusätzlicher, unrechtmäßiger Haft hinter sich haben. Sie sind oftmals selbständigen Lebens völlig entwöhnt. Aber wohin mit ihnen? Wer nimmt sie auf? Wie kann man mit ihnen arbeiten, wenn Bewährungshelfer weiterhin mit viel zu hohen Betreuungszahlen belastet sind? Lassen sich Zustände wie bei dem ehemaligen Sicherungsverwahrten in Heinsberg-Randerath - polizeiliche Dauerpräsenz, anhaltende Bürgerproteste, NPD-Mahnwachen - vermeiden?

Im Mai verwarf das EU-Gericht erwartungsgemäß die deutsche Beschwerde. Spätestens da war abzusehen, dass die Altfälle über kurz oder lang entlassen werden müssen. Derweil taten Landespolitiker, die Gefängnisse, Bewährungshilfe

nichts.


Die verschiedenen Oberlandesgerichte gewähren oder verweigern die Entlassung immer noch von Fall zu Fall. Wohin mit diesen Menschen? Was wird getan, um die von ihrnen ausgehende Gefahr zu minimieren? Folgendes: Die Boulevardpresse druckt Karten, wo die Epizentren der Gefahr eingezeichnet sind, die Wohnungen der Entlassenen werden von Journalisten belagert und von Anwohnern mit Steinen beworfen. Teilweise werden die Entlassenen mit einem unglaublichen Aufwand von der Polizei überwacht. Manche wollen angesichtes der Anfeindungen durch Nachbarn und Journalisten ohnehin lieber im Knast bleiben (so geschehen in Berlin). In Freiburg wiederum klagt die Polizei, sie habe nicht genügend Personal für die Observation der Freigelassenen, berichtet die Badische Zeitung.
Die beiden am Freitag entlassenen Männer haben mit Hilfe der Stadt eine vorübergehende Unterkunft gefunden. Wie zu erfahren war, wohnen die drei in Freiburg lebenden Ex-Sicherungsverwahrten an drei unterschiedlichen Orten in der Stadt. Eine gemeinsame Unterkunft sei sicherheitstechnisch nicht sinnvoll, heißt es.
Sollten weitere Sicherungsverwahrte entlassen werden, sieht die Stadt keine Möglichkeiten mehr, bei der Quartiersuche zu helfen, so Bürgermeister Neideck: "Dann bliebe nur noch die Obdachlosenunterkunft", sagt er. Das würde bedeuten: Die Männer könnten zwar in diesen Räumen übernachten, müssten das Quartier aber morgens verlassen und könnten erst abends wieder zurückkehren.

Die Justizministerin stellte Ende Juni einen Reformvorschlag vor, der sofort (vor allem von CDU- und CSU-Politikern) torpediert wurde. Gleichzeitig werden nach und nach immer mehr der Altfälle entlassen. Der Innenminister verfiel im August auf den Ausweg, die "psychisch gestörten" Täter in speziellen Einrichtungen unterzubringen. Nun werden erste Gebäude für diese "Sicherungsunterbringung" auf den Knastgeländen gebaut und entlassene SVer in Psychiatrien untergebracht.
Aber Menschen, die psychisch gestört sind, haben in der SV ohnehin nichts verloren. ("Psychisch gestört" im juristischen Sinne - und auf den kommt es hier schließlich an.) Sie nun für krank zu erklären, um sie weiter wegsperren zu können, mag bequem sein, wird aber vor den Gerichten keinen Bestand haben. Da nützt es auch nichts, dass sich die "Unterbringung" von der "Verwahrung" unterscheiden soll durch mehr Freiheiten und mehr Therapieangebote - was offenbar im Knast nicht passiert. Kurz: Sinn des Gesetzes zur "Sicherungsunterbringung" ("Gesetz zur Therapierung und Unterbringung psychisch gestörter Gewalttäter") sind, im besten, harmlosesten Fall, gute Schlagzeilen in der Bildzeitung. Wie zurechung- und schuldfähig sind die deutschen Justizpolitiker?